18. Kap./2 * Zauberspiegel der Selbstanalyse

Die Spiegelmetaphorik des inzwischen etablierten Psychoanalytikers Sigmund Freud im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist bekannt. Sie sollte das methodische Ideal des psychoanalytischen Prozesses illustrieren, der ja der „Abstinenzregel“ zu folgen hatte, um die Kräfte der „Übertragung“ im Patienten zu mobilisieren: „Der Arzt soll undurchsichtig für den Analysierten sein und wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen, als was ihm gezeigt wird.“[1] Interessanterweise hing am Fenster neben Freuds Schreibtisch, dem originären Ort seiner Selbstanalyse, ein Spiegel, in den er wahrscheinlich direkt während seiner Schreibarbeiten sehen konnte. (Abb. [i]) Das betreffende Foto wurden erst 1939 – wenige Tage vor Freuds Emigration aus Wien – aufgenommen. Es ist ein faszinierender Gedanke, dass sich just dieser Spiegel bereits ein Vierteljahrhundert zuvor an demselben Fensterkreuz hing, wie eine Radierung von Max Pollak aus dem Jahr 1913 belegt. (Abb. [ii]) Wann er dort aufgehängt wurde, ist nicht bekannt. Es spricht einiges dafür, dass dies schon mit Einzug in die Wohnung in der Berggasse 19 im Jahr 1891 geschehen ist und der Spiegel schon während Freuds Selbstanalyse und seiner Arbeit an der „Traumdeutung“ dort hing. Freuds Zauberspiegel, wie wir ihn einmal so nennen wollen, hat eine eigene Geschichte. Zunächst wanderte er bei der Emigration Freuds 1938 mit dem anderen Mobiliar nach London, wo er in Freuds Sterbehaus, dem späteren Freud Museum, aufgehängt wurde. Freuds Tochter Anna gab ihn schließlich zurück, so dass er heute an alter Stelle in der Berggasse 19 am Fensterkreuz hängt. Ihre Begründung ist interessant und enthält sozusagen magische Implikationen: Sie wollte diesen Spiegel nicht länger vor Augen haben, da sich ihr Vater während seines langen Krebsleidens (Gaumenkrebs) immer in diesem Spiegel betrachtet habe.[2]

Exkurs zu Freuds Spiegel mit einer Serie von Fotografien (Links) in meinem Magic Mirror Blog.

In Kulturgeschichte und Volkskunde hatte der Spiegel eine überaus große Bedeutung und war vor allem in der Kunstgeschichte ein vielfach dargestelltes Motiv.[3] Generell wurde der „wissende“ vom „wirkenden Spiegel“ unterschieden.Ersterer hatte diagnostische Eigenschaften: Als „Weltspiegel“ ließ er z. B. den Betrachter sehen, was in der Ferne vorging, als „Erdspiegel“ – etwa in Form des sagenhaften „Venedigerspiegels“ – machte er verborgene Schätze sichtbar. Spiegel wurden traditionell auch als Orakel eingesetzt, welche Zukünftiges weissagten: etwa als Ehe- oder Todesorakel. Mit dem Spiegelbild eines Menschen hatte es eine besondere magische Bewandtnis: Es erschien als Analogon zum Bild und zum Schatten des Menschen und konnte als Teil seiner Seele gelten. Wie der Schatten konnte das Spiegelbild zum Doppelgänger werden: „Was ihm geschieht, geschieht dem Wesen selbst“.[4]

Freuds Spiegel am Fensterkreuz lässt einen an Rembrandts Radierung denken, die üblicherweise als Faust-Darstellung interpretiert wird und als Beispiel für einen „wissenden Spiegel“ aufgefasst werden kann. (Abb. [iii]) Auch hier befindet sich ein Spiegel vor einem Fenster, gehalten von einem kaum sichtbaren Geist. Er reflektiert eine Botschaft, die als Kryptogramm auf einer leuchtenden Kreisscheibe hervortritt. Der Gelehrte steht in seiner Stube am Schreibtisch und blickt in aufmerksamer Gespanntheit − zurückweichend und zugleich sich hinwendend − auf die Botschaft. Rembrandts Radierung wurde in der Literatur zu Goethes Faust auch „Die Ekstase“ genannt.[5] Der Germanist Diethelm Brüggemann zeigte in seiner einschlägigen Studie, dass hier ein „praktizierender Alchemist“ dargestellt wurde, da das niederländische Verb „practiseren“ so viel wie „grübeln, sinnieren ersinnen“ bedeute.[6] Er entschlüsselte in seiner ausgeklügelten Analyse die in drei Ringzeilen mitgeteilten Schriftzeichen: Sie würden die zentrale Aussage der Alchemie mitteilen, wobei in der äußeren Ringzeile der Stein der Weisen angesprochen sei.[7] Goethe kannte Rembrandts Bild und identifizierte den Geist am Fenster mit der Erscheinung des Erdgeists in seinem „Faust“.[8]

Anmerkung vom 3.11.2014:

Zu Goethes Verwendung des Rembrandt-Radierung siehe meinen Supplementary News Blog:

Anmerkung zu 18. Kap./2 * (Zauberspiegel der Selbstanalyse) — Goethe und Rembrandts „Faust“

Der „wirkende“ Spiegel konnte gegenüber dem „wissenden“ selbst Quelle von Heil oder Unheil werden: Er konnte einerseits Böses, Unglück oder Krankheit hervorrufen, andererseits aber auch Glücksbringer sein, Böses abwehren und direkt heilkräftig wirken. An zwei Beispielen soll diese unterschiedliche Wirkungsweise des wirkenden Spiegels erläutert werden. Das Heilkonzept des „animalischen Magnetismus“ oder Mesmerismus um 1800 empfahl eine bestimmte Technik, um die magnetische Kraft („Fluidum“) zu verstärken: Allgemein sollten die „magnetischen Cursäle“ mit Spiegeln ausgeschmückt werden, wobei das Magnetisieren des Spiegelbilds eines Kranken direkt auf ihn einwirken sollte. Der „wirkende“ Spiegel wurde hier zu einem die ärztliche Behandlung (die so genannte „magnetische Manipulation“) unterstützenden Heilapparat, von dem, wie man annahm, ein heilsames Agens ausströme bzw. reflektiert werde. (Kap. 25)  Anders verhielt es sich mit der apotropäischen Wirkung des Zauberspiegels, der wie ein Amulett zur Abwehr des Bösen, etwa des „bösen Blicks“, eingesetzt wurde. Bekannt war die Anwendung des Spiegels zur Abwehr von monströsen Untieren, wie z. B. Basilisken, die angeblich durch das Erblicken ihres eigenen Bildes im Spiegel getötet würden, eine Technik, die bereits in antiken Texten und häufiger in den Sagen bzw. der Dichtung des Mittelalters und der Renaissance erwähnt wird.[9] Die Spiegelbrille als modischer Sportartikel, der die Augen dem Blick der anderen entzieht, mag seine Attraktivität ein Stück weit diesem traditionellen Einsatz des Spiegels als Instrument des Abwehrzaubers verdanken.

Der US-amerikanische Philosoph Richard Rorty setzte sich in seinem Hauptwerk „Der Spiegel der Natur“ kritisch mit jener philosophischen Tradition von Descartes bis Kant auseinander, die der Spiegel-Metapher erlegen sei und erkenntnistheoretisch davon ausgehe, die Wirklichkeit werde über Wahrnehmung und Verstand gespiegelt. Die Geschichte der Naturphilosophie mit ihrem magischen Verständnis vom Spiegel blendete Rorty jedoch aus. Dennoch traf er eine Schwachstelle der traditionellen Erkenntnistheorie, die sich durch das „Bild vom Bewusstsein als einem großen Spiegel“ gefangen nehmen ließ: „Ohne die Idee des Bewußstseins als Spiegel hätte sich eine Bestimmung der Erkenntnis als Genauigkeit der Darstellung nicht nahegelegt.“[10] Als Freud vom Analytiker als einem „Spiegel“ sprach, der dem Analysanden das widerspiegeln solle, was dieser auf ihn projiziere, so lehnte er sich an das gängige Verständnis von der Erkenntnis als Widerspiegelung der Wirklichkeit an. Das Bild im Spiegel kann als ein Moment der Selbsterkenntnis, aber auch eines der Selbstentfremdung auftreten und tatsächlich lassen sich beide Momente bei Freud entdecken.

 Die Selbstanalyse, die zur Selbsterkenntnis führen soll, gleicht dem Bildmotiv der prudentia, die sich im Spiegel betrachtet. Der italienische Maler Giotto di Bondone schuf zu Anfang des 14. Jahrhunderts zu diesem Motiv ein schönes Fresko in der Arenakapelle (Cappella degli Scrovegni) in Padua. (Abb. [iv]) Prudentia steht oder sitzt hinter dem Katheter wie eine Professorin, eine magistra, und schaut in den konvexen Rundspiegel, den sie sich mit der linken Hand vorhält.

Anmerkung vom 24.102016

Der Spiegel als Attribut der Prudentia, quasi als Instrument der Selbstanalyse, wird immer wieder ins Bild gesetzt, so etwa bei einer Skulptur am Theater in Halle (Saale).

Die rechte hält einen Zirkel, vor ihr liegt auf dem Lesepult ein aufgeschlagenes Buch. Hier wäre die Selbstbespiegelung ein Akt der Weisheit, der Selbsterkenntnis. Ganz anders wirkte die Selbstbespiegelung des Narziss, die zur tödlichen Selbstentfremdung des Betrachters führte. Dieser griechische Mythos von Narziss (Narkissos) und Echo hat die Spiegelmetaphorik von der Antike bis heute nachhaltig beeinflusst. Ovids Erzählung in den „Metamorphosen“ [11] und Sigmund Freuds psychoanalytischer Begriff des Narzißmus[12], der allerdings die essentielle Figur der Nymphe Echo vollständig ausblendete, sind gewissermaßen Ausgangs- und Endpunkt der Verarbeitung dieses mythischen Stoffs.

Der romantische Arzt und Naturphilosoph Gotthilf Heinrich Schubert veranschaulichte im frühen 19. Jahrhundert mit diesem Mythos die zeitgenössische „Sprachenverwirrung“ als pathologischen Zustand im Nervensystem. Dieser bestehe darin, dass die ursprüngliche „göttliche Sprache“ der Seele (Echo) – lokalisiert als „bildende Seele“ im „Gangliensystem“  – ihres Körpers (Narziss) beraubt worden sei und damit ihre ursprüngliche Kraft verloren habe. Als Therapie forderte Schubert dementsprechend, dass sich die körperlose Stimme (Echo) wieder mit ihrem Körper (Narziss) vereinigt, indem der in seinem Narzissmus befangene Mensch seine „innere Scheidewand“ zwischen Cerebral- und Gangliensystem – in psychoanalytischer Terminologie zwischen Bewusstem und Unbewusstem – überwindet und die „Sprache der ewigen, göttlichen Liebe“, nämlich „das als äußere Natur geoffenbarte Wort“, wieder vernehmen kann.[13]

Der Klassische Philologe Gregor Vogt-Spira hat auf die unterschiedlichen antiken Narziss-Erzählungen hingewiesen, von denen die Ovid’sche am stärksten rezipiert worden sei, wobei mittelalterliche und moderne Versionen sich vielfach vom Original unterscheiden würden.[14] Ovid ergänzte das optische Motiv der Selbstbespiegelung: „Neben die optische tritt die akustische Doppelung und Spiegelung.“ Denn Echo verdopple die Laute und reflektiere sie wie in einem Spiegel.[15] Somit habe Ovid die hellenistische Domanz des Schauens, des Blicks, mit der römischen Dominanz der Stimme im Sinne der persona kombiniert. Freilich sei das Konzept des Spiegels nicht vollständig übertragbar, da sich Narziss durch sein Sehen und nicht durch das Hören ins eigene Bild verliebt.[16] Diese Interpretation eines Latinisten ist sehr hiflreich, um den Umgang mit dem Mythos von Echo und Narziss in der Medizingeschichte zu untersuchen. Während Sigmund Freud sich ganz auf das Spiegelbild konzentrierte, um den Begriff des Narzissmus zu begründen, führte Hippolyte Bernheim die Geisteskrankheit auf durch Fremdsuggestionen unüberwindbare Autosuggestionen, die durch das gesprochene Wort erzeugt werden, zurück (Kap. 19). Hierbei handelt es sich um die innere Stimme eines Menschen, der sich selbst Suggestionen eingibt, der sich selbst im Hören spiegelt, gleichsam zu einem akustischen Narziss wird und schließlich wie Echo nur das nachplappern kann, was ihm vorgesagt wurde. Aus psychopathologischer Sicht entspricht die optische Selbstentfremdung im Spiegelerlebnis durchaus der akustischen. Denn die zurückgeworfene innere Stimme wird als fremdes Gegenüber wahrgenommen, das als bedrohlich, aber auch als verlockend empfunden werden kann. Auf die kulturanthropologische und religiöse Deutung des Mythos durch Gotthilf Heinrich Schubert ist später noch einmal zurückzukommmen (Kap. 24). Sie ist für ein Verständnis der modernen Psychotherapie und ihrer ideengeschichtlichen Wurzeln hilfreich.

Oscar Wilde potenzierte den naturmystischen Selbstbezüglichkeit der Narzissgeschichte noch mit einer weiteren Wendung. Er modifizerte ihr bekanntes Ende – der von seinem Spiegelbild faszinierte Narziss ertrinkt im Teich und verwandelt sich in eine Narzisse –, indem er den Teich selbst als narzistisches Subjekt zu Wort kommen lässt. Das betreffende Wilde-Zitat setzte der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho seinem Roman „Der Alchemist“ als Prolog voran:

„- – Er [Oscar Wilde] erzählt, daß nach dem Tod des Jünglings Oreaden erschienen, Waldfeen, die den einstigen Süßwassersee in einen Tümpel aus salzigen Tränen verwandelt fanden. ‚Warum weinst Du?’ fragten die Feen. ‚Ich trauere um Narziß’, antwortete der Teich.
‚Oh, das überrascht uns nicht, denn obwohl wir alle hinter ihm herliefen, warst Du doch der Einzige, der seine betörende Schönheit aus nächster Nähe bewundern konnte.’ ‚War Narziß denn so schön?’ verwunderte sich der See. ‚Wer könnte das besser wissen als du?’ antworteten die Waldfeen überrascht. ‚Schließlich hat er sich täglich über deine Ufer gebeugt, um sich zu spiegeln.’ Daraufhin schwieg der See eine Weile. Dann sagte er: ‚Zwar weine ich um Narziß, aber daß er so schön war, habe ich nie bemerkt. Ich weine um ihn, weil sich jedesmal, wenn er sich über mein Wasser beugte, meine eigene Schönheit in seinen Augen widerspiegelte.’ – -“[17]

Die Natur spiegelt sich im Menschen, ihr Wasserspiegel spiegelt sich in dessen Auge. Sie verfällt nun ihrerseits wie Narziss der Selbstliebe, dem Narzissmus. Das traurige Ergebnis wird von Mensch und Natur gleichermaßen hervorgebracht: Der Zusammenhang, die Wechselwirkung von Mensch und Natur, das gemeinsame Band zwischen beiden zerreißt, woraus Schmerz und Tod resultieren. Diese Thematik wurde am intensivsten in der romantischen Naturphilosophie und ihren literarischen Ausläufern an der Schwelle zur Moderne bearbeitet, wobei Joseph von Eichendorff als prominentes Beispiel zu nennen wäre.


[1] Freud (1912), GW, Bd. 8., S. 384. [2] Mündliche Mitteilung von Ehler Voss, März 2008. [3] Hartlaub, 1951. [4] Bieler, 1936/37, Sp. 573. [5] Birven, 1924: Frontispiz. [6] Brüggemann, 2001, S. 138. [7] A. a. O., S. 148. [8] A. a. O., S. 151. [9] A. a. O., Sp. 571. [10] Rorty, 1981, S. 22. [11] Ovid, 1998 (III 340-512). [12] Freud, 1914. [13] Schubert [1814], 1968, S. 157; H. Schott, 1981 [a], S. 238 f.  [14] Vogt-Spira, 2002. [15] Ebd., S. 37 f. [16] A. a. O., S. 39. [17] Zit. n. Coelho, 1986: Prolog.


[i] Engelmann, 1976, S. 28; → Abb. Freuds Spiegel 1939  [ii] H. Schott, 2006, S. A-2152; Molnar 2006;  → Abb. Freuds Spiegel 1913 [iii] Birven, 1924: Fronztispiz; Brüggemann, 2001; → Abb. Rembrandt Faust [iv] Hartlaub, 1951, Abb. 168; → Abb. Giotto Prudentia