49. Kap./2* Sexualmagische Orden

Der schillernde englische Okkultist und Abenteurer Aleister Crowley lieferte skandalumwitterte Beiträge zur Sexualmagie. Er führte orgiastische Zeremonien in einem „weißen“ und „scharzen Tempel“ in seiner Wohnung in Schottland in der Nähe von Loch Ness durch. Er heiratete das Medium Rose Edith Kelly, durch deren Mund ihm angeblich Geistwesen das „Buch des Gesetzes“ diktierten. [1] Crowley interessierte sich stark für die Sexualmagie, die er als Magick bezeichnete, wobei das „k“ für das griechische Wort ktéis (Vagina) stehe. 1929 zog er die Summe seiner Philosophie in seinem Buch „Magick in Theory and Practice“, das sehr viel später auch in deutscher Übersetzung erschien.[2] Wir begegnen hier einem Sammelsurium von alten magischen Zauberformeln und -tricks, unterlegt mit kosmologischen und hermetischen bzw. kabbalistischen Ausführungen, ohne erkennbare Systematik und ohne Angabe von Quellen. Die magia sexualis wird nicht explizit erwähnt, auch von sexuellen Praktiken ist nirgends direkt die Rede. Crowley berief sich auf den Kerngedanken der magia naturalis, wie er im „Clavicula Salomonis“, dem sogenannten „Legemoton“ des Königs Salomon, einem anonym erschienenen Zauberbuch des 17. Jahrhunderts, formuliert wurde. Dort heißt es im ersten Teil, der „Goetia“: „Magie ist die Höchste, Unumschränkteste und Göttlichste Kenntnis der Naturphilosophie, fortschrittlich in ihren Arbeiten und wundervollen Operationen […]. Daher sind Magier gründliche und fleißige Erforscher der Natur; wegen ihres erlernten Geschicks verstehen sie es, wie eine Wirkung vorhergewußt werden kann, was dem gewöhnlichen Menschen wie ein Wunder erscheinen soll.“[3] Zugleich berief sich Crowley auf J. G. Frazers „Der goldene Zweig“, in dem die Analogie von magischen und wissenschaftlichen Konzeptionen der Welt hervorgehoben wurde. „In beiden ist die Abfolge der Ereignisse vollkommen regelmäßig und sicher, indem sie durch unwandelbare Gesetze bestimmt wird, deren Operation präzise vorhergesehen und berechnet werden kann.“[4]

Nachdem sich Crowley seinem „Großen Werk“ geweiht hatte, um „ein spirituelles Wesen zu werden“, wählte er – in Abgrenzung zu „Theosophie“, „Okkultismus“ und „Mystizismus“ – einen neuen Namen für seine Arbeit: nämlich „Magick“.[5] Wille, Gewalt, Selbstbehauptung und Selbsterkenntnis waren deren Kennzeichen. So heißt es in einem „Theorem“: „Magick ist die Wissenschaft, sich selbst und seine Bedingung zu verstehen. Sie ist die Kunst, dieses Verstehen in Handlung anzuwenden.“[6] Ziel war es, den richtigen, vom Schicksal vorgesehen Ort in der Welt zu finden. Wie die Ordnung der Natur „für jeden Stern eine Bahn“ vorsehe, so habe der Mensch standhaft „seine wahre Bahn“ einzuhalten.[7] Crowley wollte letztlich alle Menschen im Sinne seiner Magick verwandeln, sie durch seine praktische Methode befähigen, „sich selbst zu einem Magier zu machen.“[8] In diesem Zusammenhang kritisierte er die Freud‘sche Psychoanalyse, die das Leben missinterpretiere und das menschliche Wesen als „ein antisoziales, kriminelles und wahnsinniges Tier“ aufgefasst habe. Zentral war die Mikrokosmos-Makrokosmos-Theorie, wonach nicht nur die Aura des Naturforschers ein „magischer Spiegel des Universums“ sei, „sondern auch das Universum […] ein magischer Spiegel seiner Aura“.[9] Dementsprechend formulierte er die Zielsetzung des „magischen Rituals“: die Vereinigung des Mikrokosmos mit dem Makrokosmos. „Das höchste und vollständige Ritual ist daher die Invokation des Heiligen Schutzengels; oder in der Sprache des Mystizismus, Einheit mit Gott.“[10] Da Gott über der Geschlechtlichkeit stehe, müsse der menschliche Mangel kompensiert, die „Balance wiederhergestellt“ werden, d. h.: Der männliche Magier habe jene weiblichen Tugenden zu kultivieren, an denen es ihm mangele. „Es wird dann für einen Magier rechtmäßig sein, Isis zu invozieren und sich mit ihr zu identifizieren“. „Invokation“ und „Evokation“ beschrieben traditionelle Techniken der magischen Rituale, der „Geisterbeschwörung“, auf die Crowley in eigenwilliger Diktion rekurrierte: „In der Invokation flutet der Makrokosmos die Bewußtheit. In der Evokation erschafft der Magier, zum Makrokosmos geworden, einen Mikrokosmos.“[11]

Der österreichische Experte für moderne esoterische Gruppierungen Ernst Thomas Hakl analysierte deren sexualmagische Praktiken. Er untersuchte vier Vereinigungen: die deutsche Bruderschaft Fraternitas Saturni, die von Eugen Grosche gegründet wurde; die Confraternita Terapeutica e Magica di Myriam und den Ordine Osirideo Egizio, die der italienische Okkultist Giuliano Kremmerz organisierte; die Gruppo di UR des italienischen faschistisch orientierten Esoterikers Julius Evola; und die Confrérie de la Flèche d’Or der in Paris wirkenden Russin Maria de Naglowska (siehe oben).[12] Wir wollen uns im Folgenden lediglich mit Eugen Grosche befassen, der sich 1925 von der Ordo Templi Orientis (O.T.O.) und damit von Aleister Crowley (siehe oben) lossagte und die Fraternitas Saturni gründete. Er war Buchhändler mit einem politisch sehr bewegten Leben: Als Kommunist floh er vor den Nazis in die Schweiz, wurde ausgeliefert, kam in Schutzhaft, wurde wieder freigelassen, trat der KPD bei, floh 1950 von Ost- nach Westberlin, weil er wegen seiner esoterischen Ansichten unter Druck geriet und baute dort die Fraternitas Saturni wieder auf, die er bis zu seinem Tod 1964 leitete.[13] In den 1920er Jahren publizierte er unter seinem Ordensnamen Gregor A. Gregorius „Magische Briefe“. Der „Achte Brief“ handelte von „Sexual-Magie“, der einen ausgezeichneten Einblick die spezifischen Sexualpraktiken gewährt.[14] Sicherlich kann aus dieser Schilderung noch nicht auf das Ausmaß der sexualmagischen Praxis der Fraternitas Saturni geschlossen werden. Hakl hat darauf hingewiesen, dass diese „Bruderschaft“ primär kein sexualmagischer Zirkel gewesen sei und im Unterschied zur O.T.O. Sexualrituale nur eine marginale Rolle gespielt hätten.[15]

Anmerkung vom 4.07.2016

Ein neue umfangreiche Studie zur Fraternitas Saturni ist kürzlich erschienen, Näheres siehe mein Supplementaries News Blog.

Gegorius begann mit einer These des stetigen kulturellen Verfalls, die dem Kulturpessimismus nach dem Ersten Weltkrieg entsprach: „Der kulturellen Entwicklung der Menschheit von dem Niveau der primitiven Völker bis in unsere Jetztzeit, in die heutigen Entwicklungsphasen, geht eine Verfallserscheinung unaufhaltsam parallel: der Niedergang der Sexualität in ihrer gesamten Auswirkung. Die reinen Urquellen des köstlichsten aller menschlichen Triebe sind verschüttet oder in unreine falsche Bahnen gelenkt.“[16] Während Christus in alchemistischer Manier als Hermaphrodit, Symbol des Steins der Weisen, gelobt wurde, verfiel das klerikale Christentum harscher Kritik: Seine „fanatische, irregeleitete Priesterschar zerstörte die alten Kulte fast restlos und damit die Blüte einer sinnlich-geistigen Kultur und Hochentwicklung der Menschheit. Jesus Christus, der selbst hermaphrodit war, über dem triebhaften Geschlechtstrieb stehend, hatte die lunare Beeinflussung gänzlich überwunden, und seine geistig-sinnliche Erotik schwang nur noch in subtiler Weise in der Freundeszuneigung zu seinem Lieblingsjünger Johannis.“[17]

Gregorius ging auf die Zeugung durch magische Imagination und kabbalistische Techniken ein und berief sich dabei auf Paracelsus, der auf die „iliastrische Zeugung“ hingewiesen habe, wobei „vorher eine zeitweise sexuelle Enthaltsamkeit nötig sei.“[18] Der Coitus interruptus sei für das Nervensystem beider Geschlechtspartner schädlich. Dagegen sei der Coitus reservatus „in der Form, daß die Ejakulation während einer berächtlichen Zeit zurückgehalten wird, innerhalb derselben die Frau mehrere Male Orgasmus haben kann, keineswegs schädlich, sondern gewährt vor allen Dingen der Frau volle Befriedigung.“ [19] Diese Methode solle „sorgfältig kultiviert werden“.  Im heraufziehenden „Wassermannzeitalter“ werde die veraltete Einehe überwunden und es komme zu einer neuen Ethik: „Wer erkannt hat, daß die dauerhafte Bindung an ein Weib durch dessen lunare Kräfte in den meisten Fällen nur den geistigen logischen Aufbau des männlichen Verstandes hindert, daß besonders die frühen Heiraten der frühzeitige Ruin der gesamten Mannespersönlichkeit auf physischer und psychischer Grundlage sind, wird das Eheproblem ohne weiteres lösen durch vollständige Verneinung der bürgerlichen Ehe überhaupt.“[20]

Gregorius gab eine interessante praktische Anleitung zur sexuellen „Bannmagie“.[21] Im Unterschied zur „niederen Magie“, die sich hypnotischer und magnetischer Kräfte des Menschen bediene, „arbeitet die Bannmagie unter Zuhilfenahm [sic] reiner Willensschulung nur mit der Vorstellungskraft und mentaler Wunschkraft des Magiers“, mit einer Einstellung, „die man als mentale Ekstase bezeichnet.“[22] Nach Herstellen des „Rapport“ durch „Handübertragung“ und Angleichung des Atems soll der Magier in stehender Position nacheinander durch seine Willenskraft den „Solarplexus“ (Oberbauch) sowie das „Geschlechts- und Intuitionszentrum“ (Genital- und Stirnregion) des liegenden „Mediums“ bestrahlen. (Abb. [i]) Die Zeichnung verdeutlicht, wie die genannten Zentren „in geistigen Kontakt“ kommen sollten: „Dein Geschlechtszentrum muß das Intuitionszentrum des Mediums hemmen, der Solarplexus das gleiche, während Dein Intuitionszentrum das Geschlechtszentrum des Mediums belebt.“[23] Auf diese Weise könne man sich ein Medium „derart heranbilden, daß sie durch bestimmte Handgriffe jederzeit körperlich in Katalepsie fällt.“[24] Die Od-Ausstrahlung des Magiers mache das Medium „willen- und bewegungslos ohne eigentliche Hypnose.“[25] Die Psyche sei derart zu schulen, um eine „sexuelle Hörigkeit“ zu erzielen, insbesondere „durch sorgfältig vorher gewählte Stunden, in denen du den Koitus mit dem Medium ausführst.“[26] Beim sexuellen Verkehr habe der Magier „stets die priesterliche Weihe“ zu wahren und dürfe „nie zum begehrenden Sinnessklaven des Weibes“ herabsinken. Im heutigen Sprachgebrauch würden wir eine solche Einstellung aus dem Blickwinkel männlicher Überlegenheit als Machismo bezeichnen.

Dies wird noch deutlicher bei Ejakulation und Sperma, die für Gregorius entscheidende Bedeutung hatten. Man solle bei dem „persönlichen, nicht magischen Zwecken dienenden Liebesverkehr“ nie innerhalb der Vagina ejakulieren und das Sperma „sorgfältig unter Beeinflussungs-Denkkonzentrationen auf dem Solarplexus des Weibes“ verreiben. Auch müsse das Medium dazu angehalten werden, regelmäßig „monatlich in den Tagen ihrer Reinigung ebenfalls unter beidseitiger Gedankeneinstellung“ das Sperma zu trinken − Gregorius drückte dies, wie seinerzeit in sexualkundlichen Texten nicht unüblich, auf Lateinisch aus: „spermam tuam biberet.“ Denn dann werde das Medium „vollständig mit Deinen Influenzen und Odstrahlen durchtränkt sein und nur dir allein gehorchen, so nicht nur als Weib, sondern auch in seinen astralen Spaltungen.“ Gregorius identifizierte das Sperma mit der „Prima-Materie der Alten“, wobei es ihm auf die „Influenz des lebensfähigen Sperma“ ankam. Jedenfalls war für ihn klar, dass es „für den Magier eines der wichtigsten magischen Hilfsmittel“ sei.[27] So seien Incubi und Succubi „aus den spermatischen Fluidalkräften von im Imaginationszustande befindlichen Menschen“ entstanden. Diese könnten sich jahrhundertelang durch Vampirismus am Leben erhalten. Daraus leitete Gregorius eine eigenartige Dämonologie ab. Er rechnete auch mit „Blutdämonen“, die sich von dem Menstrualblut nährten, „solange sie noch sexuell schwingen und von dem Schweiße der Genitalien.“ Das Sperma diente beim sexualmagischen Ritual als äußerst wichtiges Zaubermittel. Es solle, wenn es die die Vagina verlässt, mit Weingeist vermischt werden: „Also vollzieht sich die mystische Vereinigung innerhalb des gebildeten Gedankenwesens. Tränke das Pergament mit dem Weingeist und dem Sperma und menge dazu drei Blutstropfen deines linken Saturnfingers, dann trockne das Pergament über dem Rächergefäß und die Zeremonie ist damit beendigt.“[28]


[1] Alexandrian, 1983, S. 378 f. [2] Crowley, 1996. [3] Zit. ebd., S. XI. [4] Zit. ebd. [5] A. a. O., S. XIII. [6] A. a. O., S. VIII. [7] A. a. O., S. XIX. [8] A. a. O., S. XXI. [9] A. a. O., S. 5. [10] A. a. O., S. 7. [11] A. a. O., S. 9. [12] Hakl, 2008. [13] http://de.wikipedia.org/wiki/Gregor_A._Gregorius (23.04.2012). [14] Gregorius, 1927. [15] Hakl, S. 2008, S. 447. [16] Gregorius, 1927, S. 5. [17] A. a. O., S. 6. [18] A. a. O., S. 10 f. [19] A. a. O., S. 48. [20] A. a. O., S. 60. [21] A. a. O., S. S. 69-77. [22] Ebd., S. 69. [23] A. a. O., S. 70. [24] A. a. O., S. 72. [25] A. a. O., S. 74. [26] A. a. O., S. 75. [27] A. a. O., S. 77. [28] A. a. O., S. 94.


[i] Gregorius, 1927, S. 71; → Abb. Gregorius Bannmagie