12. Kap./2 * „Genie“ − rein oder entartet?

Dem Degenerierten als Untermensch wurde das „Genie“ als Übermensch gegenübergestellt. Der in der Goethezeit aufblühende Geniekult hatte religiöse und naturphilosophische Implikationen. Um diese ins Auge zu fassen, müssen wir ideengeschichtlich etwas ausholen. Sokrates verstand unter Enthusiasmus eine göttliche Eingebung, die etwa einen Dichter inspiriert, und unter Eudämonie (eudaimonia) das Geführtwerden durch einen guten Dämon (daimon), was dem römischen genius entsprach. Genien erschienen als göttliche Schutzmächte, insbesondere in der jüdischen Kabbala. Durch Ableitungen aus dem Gottesnamen „Ieovah“, dem Tetragrammaton (JHWH, יהוה), konnten die Namen von 72 „Genien“ als unterschiedliche Mächte Gottes angerufen werden.[1] So wurde der 28. Genius als „Gott, der du die Kranken heilst“ (Séeiah, הּיּהּאּשּ) „gegen Übelbefinden und Donner“ sowie „gegen Feuersbrunst, Häusereinsturz und Krankheiten“ angerufen.[2] Der 72. und letzte Genius hieß Mumiah (הּיִמּוּמּ), wirkte angeblich „auf Gesundheit und Langlebigkeit“ und schützte vor „Verzweiflung und Selbstmord.“[3] Unter seiner Herrschaft standen Naturwissenschaften und Medizin.

Deutscher Idealismus und Romantik verstanden unter „Genie“ die verborgene Gottnatur im Menschen; das Gewissen erschien als „Stimme Gottes im Menschen“, als „versteckter Poet in uns“ (G. H. Schubert), ein anthropologisches Faktum, das alle Menschen betraf (Kap. 24). In der Medizin war der „Genius“ die personifizierte Heilkraft, der Schutzgeist vor krankmachenden Einflüssen. Immanuel Kant definierte schließlich in der „Kritik der Urteilskraft“ das Genie als eine autochthone Naturkraft: „Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel giebt. Da das Talent als angebornes productives Vermögen des Künstlers selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborne Gemüthsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel giebt.“ [4] Und etwas später meinte er: „Darin ist jedermann einig, daß Genie dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegen zu setzen sei. Da nun Lernen nichts als Nachahmen ist, so kann die größte Fähigkeit, Gelehrigkeit (Capacität) als Gelehrigkeit, doch nicht für Genie gelten.“[5]

Der Münchner Theosoph Karl von Eckartshausen, der sich Ende des 18. Jahrhunderts mit Fragen der Kabbala und der Naturophilosophie auseinandersetzte, veranschaulichte den Genius auf dem „Titelkufer“ seines Buches „Zahlenlehre der Natur“. (Abb. [i]) In Gestalt eines Jünglings streckt er den rechten Arm nach oben der Sonne entgegen, dem „Sinnbild der Einheit, aus der alles Zählbare kommt“. Der linke Arm weist nach unten, wo er mit einem Zirkel das Herz eines Kindes misst, „Sinnbild, wie Einfalt und Kraft sich vereinigen müßen“. Eckartshausen hing im Rückgriff auf antike Traditionen einer kabbalistischen Zahlenmystik an, wonach Zahlen als Offenbarungen der „inneren Natur“ zu verstehen seien: „Das Medium, wodurch das Innere der Natur, das Uebersinnliche, unserem Erkenntnißvermögen unterworfen wird, sind die Zahlen. Das Aeußere verhält sich nach den Gesetzen der Formen; − das Innere nach den Gesetzen der Zahlen.“[6] In der Bildanordnung wird die Mittlerfunktion des Genius zwischen Himmlischem und Irdischem deutlich, er stiftet gewissermaßen die Verbindung zwischen beiden und übernimmt insofern die Rolle eines Mediums.

In der Renaissance wurden zwei Auffassungen des Genies populär, die für den späteren Geniediskurs prägend waren: Zum einen die – insbesondere vom italienischen Humanisten Leon Battista Alberti vertretene – Vorstellung vom Künstler als einem Genie, das seine Kunstwerke mit individueller Kraft selbstbewusst schafft und damit die Natur übertrifft.[7] Zum anderen eine Art Medikalisierung der Genialität, indem sie als Ausdruck einer besondere „Melancholie“ begriffen wurde. Hier bezog man sich auf Aristoteles, der als erster diese Verbindung humoralpathologisch begründet hatte. In den „Problemata physica“ stellt er die Frage: Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder in den Künsten als Melancholiker […]?“[8] Die Natur des Melancholischen sei eine Mischung aus Warm und Kalt und so könne die schwarze Galle „sowohl den höchsten Wärmegrad als auch den höchsten Kältegrad annehmen.“[9] Entsprechend könne es einerseits zu „Schlagflüssen, Erstarrungen, Depressionen oder Angstzuständen“ kommen, andererseits zu „Gesang, Ekstasen, Aufbrechen von Wunden“. Überragende Leistungen erscheinen ihm als Ausdruck einer mittelmäßigen Melancholie: „Diejenigen aber, bei denen [die schwarze Galle] hinsichtlich ihrer allzu großen Wärme auf das Mittelmaß gemildert ist, sind zwar noch Melancholiker, aber vernünftiger und weniger abnorm. In vielen Dingen aber überragen sie die anderen, die einen durch ihre Bildung, die anderen durch künstlerisches Können, andere durch politische Wirksamkeit.“[10]

Demgegenüber wurde in der frühen Neuzeit das Genie als anatomisch-physiologische Gegebenheit diskutiert und im Sinne der Signaturenlehre im Kontext der magia naturalis ausgelegt (Kap. 33). Vor allem die Physiognomik im 17. und 18. Jahrhundert – von Della Porta bis Lavater – befasste sich mit den besonderen Merkmalen von Kopfformen und Gesichtszügen, die das Genie auszeichnen sollten. Die anthropologische Grundlage für den modernen Geniediskurs schuf freilich der (vergleichende) Hirnanatom Franz Joseph Gall um 1800 mit seiner „Schädellehre“ (Kranioskopie), die später als „Phrenologie“ bezeichnet wurde. Geniale Dichter, Denker, Musiker und Staatsleute sollten an ihren speziell ausgeprägten „Hirnorganen“ erkennbar sein. Die Jagd nach den Schädeln genialer Zeitgenossen, die phrenologisch gedeutet bzw. paläopathologisch analysiert wurden, begann im frühen 19. Jahrhundert und ist bis heute nicht abgeschlossen (Kap. 33). Beispielhaft sei hier nur auf gewisse Überreste von Beethovens Schädel hingewiesen, die im Jahr 2010 wieder einmal nach einer neuerlichen toxikologischen Untersuchung weltweit Beachtung fanden.[11] Der Schädelkult als wichtige Branche des Reliquienkults reicht bis in die Gegenwart. Die Faszination, die gerade auch vom „bösen“ Genie ausgeht, lässt sich im Fall von Adolf Hitler beobachten. Die identifizierten Überreste der Leiche – zusammen mit denen seiner Frau – wurden von den sowjetischen Behörden Jahrzehnte lang geheim gehalten, um jeden politischen Kult zu verhindern. Angeblich wurden sie 1970 durch den sowjetischen Geheimdienst verbrannt und die Asche in einen Fluss verstreut. Die vermeintlichen Teile von Hitlers Schädelkalotte, die im Russischen Staatsarchiv in Moskau aufbewahrt werden, sollen nach jüngeren Untersuchungen von einer Frau stammen.[12]

Die hirnanatomische Forschung an Präparaten verstorbener Genies wurde im 20. Jahrhundert vorangetrieben. Paradigmatisch wären hier die Studien des deutschen Hirnforschers Oskar Voigt zu nennen, der Lenins Gehirn im offiziellen Auftrag der Sowjektführung von 1925 bis 1927 untersuchte.[13] Seine Arbeitsanleitung regte übrigens einen gewissen Dr. Thomas Harvey vom University Hospital in Princeton an, Einsteins Gehirn nach dessen Tod auf eigene Faust zu entnehmen. Eine Jahrzehnte andauernde bizarre Geschichte sollte sich daraus entspinnen, bei der ein Reihe von Neurowissenschaftlern der Versuchung nicht widerstehen konnten, Einsteins Genie hirnanatomisch zu objektivieren. Ironischerweise wog jedoch sein Gehirn weniger als das durchschnittliche „Normalhirn“! [14] Im politischen Bereich wird hin und wieder versucht, besonders kriminelle Energie, sozusagen „böse“ Genialität, wie man sie Terroristen zuschreibt, auf hirnpathologische Befunde zurückzuführen. Die höchstricherliche – und bald wieder revidierte – Anordnung von 1973, an der inhaftierten Ulrike Meinhof zwangsweise eine Hirnszintigraphie durchzuführen, wäre hierfür ein Beispiel.[15]

Es sei hier nur schlaglichtartig angedeutet, dass die Degenerationslehre und die Rassenbiologie im ausgehenden 19. Jahrhundert den Geniediskurs pathologisierten. Der Geniale gehörte nun zur Spezies der besonders Entarteten, wie der französische Psychiater Jacques Joseph-Valentin Magnan darlegte – eine wichtige Stimme im Konzert der Degnerationstheoretiker. Auch bei Schwachsinnigen fänden sich „partielle Genies“: „je nachdem einzelne Hirn-Centra der Entartung entgangen sind, können beim Idioten einzelne Anlagen vorhanden sein […]. Noch deutlicher sind diese vereinzelten Talente unter den Schwachsinnigen, bei denen man nach Voisin’s Ausdruck partielle Genies findet. Zeichner, Musiker, Bildhauer, Tänzer, Rechner. Das sind sozusagen Oasen in der Wüste.“[16] Das hereditäre Irresein werde durch Disharmonie gekennzeichnet. „Ein Hereditarier kann ein Gelehrter, ein ausgezeichneter Beamter, ein grosser Künstler, ein Mathamtiker, ein Politiker, ein geschickter Staatsmann sein und dabei in moralischer Hinsicht klaffende Lücken zeigen, wunderliche Neigungen, überraschende Unregelmässigkeiten der Lebensführung“.[17]

Der zionistische Arzt Max Nordau hieb in dieselbe Kerbe. In seinem Buch „Die Entartung“, das er dem italientischen Psychiater Cesare Lombroso („hochgeehrter, theurer Meister“) gewidmet hatte, wollte in Ergänzung zu dessen Lehre von den Entartungszeichen die Schriftsteller und Künstler unter die Lupe nehmen: „Die Entarteten sind nicht immer Verbrecher, Prostituierte, Anarchisten und erklärte Wahnsinnige. Sie sind manchmal Schriftsteller und Künstler.“[18] Einige dieser Entarteten seien „außerordentlich in Schwang gekommen“ und übten „eine mächtige Suggestion auf die Massen“ aus. So übte er heftig Kritik am „Richard-Wagner-Dienst“, denn Wagner war für ihn das Musterbeispiel eines Entarteten: „Der eine Richard Wagner ist allein mit einer größeren Menge Degeneration vollgeladen als alle anderen Entarteten zusammengenommen, die wir bisher kennen gelernt haben. Die Stigmata dieses Krankheitszustandes finden sich bei ihm mit unheimlicher Vollständigkeit und in üppigster Entfaltung vereinigt. Er zeigt in seiner allgemeinen Geistesverfassung Verfolgungswahnsinn, Größenwahn und Mysticismus, in seinen Trieben verschwommene Menschenliebe, Anarchismus, Auflehnungs- und Widerspruchssucht […] und als Grundlage seines Wesens die kennzeichnende Emotivität von gleichzeitig erotomansicher und glaubensschwärmerischer Färbung.“[19]

Nordau polemisierte allgemein gegen das Zeitalter der Weichlinge, die Fin-de-siècle-Stimmung, die „ohnmächtige Verzweiflung eines Seichlings, der inmitten der übermüthig blühenden, ewig weiterlebenden Natur sich zollweise sterben fühlt“.[20] Seine „Rhetorik der Entartung“ (Céline Kaiser)[21] stellte dem gesunden „Muskeljuden“ den degenerierten „Nervenjuden“ oder „Talmudjuden“ gegenüber und folgte damit der zeitgenössischen Sichtweise der Rassenbiologie, die somit auf zionistische Mühlen gelenkt wurde.  Mystizismus war für Nordau Ausdruck von Geistesschwäche: „Das Gehirn des Erschöpften und Entarteten […] arbeitet Nebelvorstellungen aus, weil es überhaupt nicht im Stande ist, auf einen Reiz mit einer kräftigen Thätigkeit zu antworten. So ist Unwissenheit künstliche Geistesschwäche, wie umgekehrt Geistesschwäche die natürliche organische Unfähigkeit ist.“[22]

Der psychiatrische Diskurs drehte sich um die grundsätzliche Frage, ob ein Genie zu den kranken Psychopathen oder zu den gesunden Hochbegabten zu zählen sei. Der italienisch-jüdische Psychiater Lombroso gab mit seinem Buch „Genio e follia“ (1864) den Ton an. Es erschien in zahlreichen Auflagen, auch in deutscher Übersetzung, und übte starken Einfluss auf die deutsche scientific community aus.[23] Sowohl Verbrechen als auch Genialität wurden von ihm auf dieselbe „epileptoide Degeneration“ zurückgeführt. Er setzte die (angeblich) besondere Anfälligkeit der Juden für Geisteskrankheiten mit deren Genialität in in Beziehung, indem er allgemein eine Verwandtschaft der „Physiologie des Genies mit dem Wahnsinn“ behauptete. So konfrontierte er die überragende Kulturleistung vieler namhafter Juden mit der „sonderbaren“ Tatsache, „daß eben die Juden eine verhältnismäßig vier- bis sechsmal größere Anzahl Geisteskranker liefern als ihre andersgläubigen Mitbürger“, was er – in späteren Auflagen seines Buches –mit statistischen Zahlen scheinbar belegen konnte.[24] Lombrosos rassenbiologische Erklärung der Genialität der Juden konnte in den Antisemitismus nationalsozialistischer Prägung ohne Schwierigkeiten ebenso eingefügt werden wie seine Theorie vom „geborenen Verbrecher“, die in der Erbbiologie unter der Herrschaft des Nationalsozialismus große Popularität erlangte.[25] Im Übrigen ist es bemerkenswert, dass sich namhafte (deutsch-)jüdischen Psychiater hinsichtlich der Degenerations- und rassenbiologischen Ideologie kaum von ihren nichtjüdischen Kollegen unterschieden (Kap. 9).

Für Lombroso waren Genie und Geisteskrankheit, ihr „Beisammensein“, zwei Seiten ein und derselben Medaille und gleichermaßen erklärungsbedürftig. Interessant war sein Versuch, die eine Seite durch die andere zu erläutern: Die Geisteskrankheit solle man mit Respekt und das Genie mit gewissem Misstrauen betrachten. Er erkannte scharfsichtig die Gefahr der Irreführung der Masse durch einen genialen Führer. So lautet der letzte Absatz seines Genie-Buches: „Endlich scheint uns die Natur durch die Aehnlichkeit und das Beisammensein der Erscheinung von Genie und Geisteskrankheit daran mahnen zu wollen, dass man das höchste Unglück, das Irresein, zu achten habe, andererseits aber auch daran, dass man sich nicht verblenden lasse durch diese Genien, die, anstatt zur Sonne sich zu erheben, als verlorene Sternschnuppen in der Erdrinde, inmitten von Irrwegen und Abgründen, sich verlieren könnten.“[26] Möglicherweise war dies eine Anspielung auf Napoleon, der selbst einmal den Satz formuliert hat: „Genies sind Unglückliche, sind Meteore, die verbrennen müssen, um ihr Jahrhundert zu erleuchten.“[27]


[1] Papus, 1921, S. 88. [2] A. a. O., S. 253. [3] A. a. O., S. 269. [4] Kant, [1790] 1913, S. 307. [5] A. a. O., S. 308. [6] A. a. O., S. 34. [7] Müller-Ebeling, 2000, S. 19. [8] Aristoteles, 1962, S. 250. [9] A. a. O., S. 252. [10] A. a. O., S. 253.[11] http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/0,1518,697529,00.html (25.10.2010). [12] http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,652024,00.html (25.10.2010). [13] http://www.luise-berlin.de/bms/bmstxt00/0006gesb.htm (21.10.2010). [14] http://www.welt.de/print-welt/article670860/Einsteins_Hirn_war_ungewoehnlich_leicht.html (25.10.2011) [15] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41911483.html (25.10.2010). [16] Magnan, 1892, S. 5. [17] A. a. O., S. 6 f. [18] Nordau, 1896: “Statt eines Voworts”. [19] A. a. O., S. 307. [20] A. a. O., S. 6. [21] C. Kaiser, 2007. [22] A. a. O., S. 126. [23] Lombroso, 1864; 1882; 1887 [b]; 1890; 1894; Gadebusch Bondio, 1995. [24] Lombroso, 1887 [b], S. 70 f. [25] Hovenbitzer, 2001. [26] Lombroso, 1890, S. 437. [27] Zit. n. D. Kerner, 1986, S. 327.


[i] Eckartshausen, 1794: Frontispiz; → Abb. Eckartshausen 1794 Frontispiz