42.Kap./1 * Mond, Natura und Scientia [+ Audio]

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Der hierarchischen Trias Gott − Natur − Mensch, die wir an anderer Stelle bereits erörtert haben (Kap. 36), entsprach die analoge Trias Sonne − Mond − Erde. In beiden Fällen gab es eine vermittelende Instanz, ein Medium: Natura bzw. Luna. Die Mittelposition zwischen Oben und Unten, Himmel und Erde, wird gerade in den emblematischen Illustrationen deutlich, in denen Natura und Luna eine analoge Stellung einnehmen. Sie werden vom göttlichen Licht bestrahlt, das von ihnen gespiegelt und zur Erde reflektiert wird. An einem Beispiel wird dies besonders deutlich. Das Buch „Septimana Philosophica” (1620) des Arztes und Rosenkreuzers Michael Maier enthält eine interessante kosmologische Illustration: Die Jungfrau Europa im Zentrum wird im Mond (LVNA) reflektiert, der in einer mittlereren Position zwischen Sonne (SOL) und „Europa“ steht. (Abb. [i]) Hier wird also nicht der sprichwörtliche „Mann im Mond“, sondern sozusagen die Frau im Mond sichtbar. Der Mond wird dabei aus zwei Richtungen bestrahlt: einerseits von der Sonne, andererseits von der Erde. Auf der Mondoberfläche werden somit Teile der Erdkugel abgebildet, reflektiert, je nach regionalem Standort des irdischen Betrachters, „so that in Europe may be seen the idea of Europe, in Asia that of Asia [ect.]”.[1] Der Mond fungiert hier als Spiegel der Erde − im Lichte der göttlichen Sonne. Auf dem Titelkupfer von Maiers „Viatorium“, einem alchemistisch-astrologischen Wegweiser, sieht man das Portät des Autors oben in der Mitte, umgeben von der Darstellung der sieben Planeten, wobei auf der rechten Seite die männliche Sonne und darunter der weibliche Mond mit ihren typischen Attributen dargestellt sind (Abb. [ii]). Die Mondfrau trägt eine Umhängetasche und schreitet beschwingt mit ihrem Wanderstab voran. Sie erinnert in ihrer Bewegung an die Natura in einer anderen Publikation von Maier: nämlich im betreffenden Emblem der „Atalanta fugiens“ (Kap. 36).

Natura und Scientia, die generell als recht ansehnliche Frauen personifiziert wurden, waren in ihrer göttlichen Qualität letztlich identisch. Der Mensch konnte sich ihnen allenfalls durch philosophia, als philosophus annähern. Auf dem Frontispiz eines kabbalistischen Lehrbuchs, das Ende des 18. Jahrhunderts anonym erschien, ist eine Frau zu sehen, die offenbar über die Mystik der Zahlen im Sinne des Pythagoras meditiert. (Abb. [iii]). Es fallen einige Besonderheiten auf. Die Frau ist bis zur Gürtellinie entblößt. Sie schaut versonnen und zugleich erwartungsvoll nach oben, am Himmel zeigen sich die Mondsichel und eine Reihe von Sternen, hinter hier steht die Büste des Pythagoras, neben ihr halten ungeflügelte Putten eine große Zahlenscheibe. Die Unterschrift zu diesem Frontispiz lautet: „Le hazard nous éleve en un rang / ou nous n’aurions osé prétendre“. Es geht hier wohl um den göttlichen Einfall, der den Menschen in seiner Erkenntnis selbst zu einem göttlichen Wesen macht. Vor dem Hintergrund der Natura-Ikonographie der frühen Neuzeit lässt sich diese Frauengestalt leicht einordnen. Es handelt sich um die Personifikation der Wissenschaft (Scientia), deren reinste Form die Mathematik darstellt. In ihrer vermittelnden Position zwischen Himmel und Erde wird Scientia identisch mit Natura, indem sie deren Magie unmittelbar nachvollzieht. Die Analogie zu Dürers berühmtem Kupferstich „Melencolia I“ ist frappierend und es ist anzunehmen, dass der anonyme Künstler sich davon anregen ließ. Wir wollen dieses Meisterwerk nun näher beleuchten. (Abb. [iv])

Wie uns der betreffende Wikipedia-Artikel belehrt, gehört „Melencolia I“ aus dem Jahre 1514 neben „Ritter, Tod und Teufel“ und „Der heilige Hieronymus im Gehäus“ zu den drei Meisterstichen Albrecht Dürers. Der Stich gelte „als das rätselhafteste Werk Dürers und zeichnet sich – wie viele seiner Werke – durch eine komplexe Ikonographie und Symbolik aus.“[2] Auf die einschlägigen Bildinterpretationen und die beeindruckende Rezeptionsgeschichte kann hier nicht näher eingegangen werden. Erwin Panowsky meinte, Dürer habe „eine ‚Melancholia artificialis’ oder die Künstlermelancholie“ dargestellt.[3] In dieser Sicht erscheint das Meer als Symbol des Chaotischen, Abgründigen. Hund und Fledermaus gehören „schon traditionell zur Melancholie“.[4] Das Fledermaus-Motiv diente den Humanisten im Guten wie im Bösen als Symbol für nächtliches Wachen oder nächtliche Arbeit: „Nach Agrippa von Nettesheim ist ihre hervorstechende Eigenschaft die ‚vigilantia’, bei Ficino ist sie ein warnendes Beispiel für die aufreibende und schädliche Wirkung des nächtlichen Studiums“.[5] Die weibliche Gestalt der Melancholie wurde vor allem als eine Trauernde aufgenommen: „Das ‚traurige Wissen’ um das ‚zu spät’ von Philosophie und Wissenschaft, die nur interpretierend, aber nicht eingreifend verändernd wirken, sind auch ein Moment der Trauer der Melancholie.“[6] Klibansky, Panofsky und Saxl verwiesen auf die Urfassung der „Philosophia occulta“ von Agrippa von Nettesheim als wichtigste Quelle zum Verständnis von Dürers Melencolia I. Dort kämen „die zwei Kapitel über den ‚furor melancholicus’ dem weltanschaulichen Gehalt des Dürerschen Kupferstichs näher als irgendeine andere uns bekannte Schrift.“[7]

Es hat den Anschein, als hätten sich solche Interpretationen zu sehr vom Begriff „Melancholie“ beeindrucken lassen. Bereist Dürers Ausdruck „Melencolia“ sollte zu denken geben. „Mel“ könnte mit Honig (mellis) assoziiert werden, und „encolia“ weckt die Assoziation „im Himmel“ (en und coelum). Insofern könnte das zuvor betrachtete Frontispiz zur kabbalistischen Wissenschaft neues Licht auf Dürers Stich werfen. Handelt es sich nicht um dieselbe Konstellation? Eine weibliche Figur als Personifikation göttlichen Wissens, als Magierin im Einklang mit der Natur? Ich vermag in ihrer Körperhaltung und ihrem Gesichtsausdruck keine „Verzweiflung“ erkennen, die man ihr immer wieder angedichtet hat. Auch wenn sie in sich gekehrt dasitzt, sind ihrer Augen doch sehend nach oben in himmlische Regionen gerichtet. Was zeigt sich dort? Ein helles, geschweiftes Gestirn, ein Komet, der an den Stern von Bethlehem erinnern mag, und ein Regenbogen, der Irdisches mit Himmlischen verbindet. Zwar ist diese Frau nicht entschleiert, aber sie hat Flügel, ein Hinweis auf ihren engelhafte Charakter als Botschafterin, als Medium zwischen Gott und Mensch. Dürer setzte an ihre Stelle keinen bärtigen Alchemisten, keinen Pythagoras oder sonstigen Magier, sondern diese übermenschliche Frau mit den Flügeln eine Engels oder Genius.

Zur weiterführenden Interpretation hat mir Ernst Theodor Mayer am 15.08.2014 ein Mail geschickt, die ich im Supplementary News Blog publiziert habe:

Dieser Link verweist auf ein Beispiel für die gängige Gleichsetzung von Dürers „Melencolia I“ mit „Melancholie“ im Sinne von „Depression“:

Anmerkung vom 3.12.2014:

Ein rezentes Beispiel für die assoziative Verknüpfung von Dürers „Melencolia“ mit Melancholie als Geisteskrankheit: siehe mein Supplementary News Blog.

Das Ölgemälde „Die Melancholie“ (1532) von Lukas Cranach dem Älteren, das noch in drei weiteren Varianten existiert, weist eine interessante Parallele auf. (Abb.[v]) Auch hier sieht man eine junge Frau mit Engelsflügeln dasitzen. Sie schaut entrückt in Richtung von drei spielenden Knaben, während sie an einem Stock schnitzt. Im Hintergrund reiten Hexen wild auf Ziegenböcken, Schwein und Windhund in einer dunklen Wolke. Sei ent+führen einen rot gekleideten Mann (?). Heutige Interpreten richten ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Hintergrund und sehen darin „Hexerei und sexuelle Unordnung im 16. Jahrhundert“.[8] Die „Schar nächtlich ausfahrender Geistwesen“ wir als „Metapher für sexuelle Ausschweifungen“ gedeutet. Der Bochumer Philosoph Gunter Scholtz verstieg sich sogar zur Aussage: „Lukas Cranach malte sie als verführerische, lüsterne Venus in rotem Gewande. Die Melancholie übt also selbst gleichsam Liebesreize aus – und ersetzt so die Liebe.“[9] Offenbar übersah er ihre Flügel, ihre züchtige Haltung und ihren ernsten und keineswegs lüsterenen Gesichtsausdruck. Doch warum erscheint die junge Frau in Engelsgestalt? Warum hat sie sogar nichts mit einer „Venus“ gemein, die verführerischen Liebeszauber praktiziert? Hierzu habe ich in der Literatur keine Antwort gefunden.

Die mediale Frau als Personifikation der Natura, die eine Botschaft an auserwählte Menschen überreicht, ist ein bekanntes Bildmotiv in der Kunstgeschichte. Auf einem kolorierten Holzschnitt von Hans Burgkmair, der einem Pergament-Exemplar der ersten Ausgabe des „Theuerdank“ (Augsburg 1517), einer fiktiven Geschichte der Brautfahrt Maximilian I., entnommen ist, sieht man Königin Ehrenreich auf dem Thron. (Abb. [vi]) Die zweite Ausgabe als Papier-Exemplar enthält einen identischen, aber nicht kolorierter Holzschnitt.[10] Die Königin als Braut (Maria von Burgund) überreicht Ehrenhold eine Botschaft an Theuerdank, den Bräutigam (Maximilian I.). Diese in Versen verfasste Erzählung im Auftrag oder gar aus der Feder von Maximilian I. schildert also die Fahrt des Ritters Theuerdank („Thewrdanck“) zu seiner Braut Fräulein Ehrenreich („Ernreich2). Ein Kommentar hierzu lautet: „Die Königin Ehrenreich, auf einem Throne sitzend, verkündet ihren Räten eine Botschaft, die von Ehrenhold  überbracht werden soll. Neben Ehrenhold ein Engel.“[11] Bisher sei die „Weltenehre“ verteidigt worden, jetzt solle der christliche Glauben beschützt werden. In gewisser klerikaler Analogie zeigte Burgkmair auf dem Titelholzschnitt zu Johannes Stamlers „Dialogus“, wie die in der Höhe thronenende Himmelskönigin „Sancta Mater Ecclesia“, eine Ausgesaltung der Heiligen Jungfrau Maria, dem Papst und dem Kaiser, die vor ihr knien, die Insignien ihrer Macht – Schlüssel bzw. Schwert – überreicht. (Abb. [vii]) Über Maria mit Krone und Heiligenschein erhebt sich unter einem Baldachin das Kreuz. Unter ihr fließt aus einem „Brunnen der wahren Weisheit“ (pons vere sapiencie) Wasser auf das Haupt einer weithin verhüllten Person, wahrscheinlich der Sapientia, umgeben von einer Schar von Schülern. Wir haben hier die verschiedenen Frauengestalten vereint: Königin, Mutter, Maria, Sapientia und implizit auch Natura, die als Quelle der Weisheit zumindest angedeutet wird. Freilich geht es in diesem Traktat explizit um Religion und nicht um Naturforschung. Gleichwohl mag auch hier das Diktum des römischen Dichters Juvenal mitschwingen: „Numquam aliud natura, aliud sapientia dicit.“ (Niemals sagt die Natur eine Sache und die Weisheit eine andere.)


[1] Zit. n. Tilton, 2003, S. 310. [2] http://de.wikipedia.org/wiki/Melencolia_I (23.04.2012) [3] Zit. n. Jahnke, 1987, S. 59; Panowsky [1943], 1977, S. 216. [4] Jahnke, 1987, S. 61. [5] Klibansky, 1990, S. 456. [6] Jahnke, 1987, S. 62. [7] Klibansky et al., 1990, S. 494. [8] Zika, 2002. [9] Scholtz [Online-Artikel], S. 7. [10] Burgkmair 1973 [b], S. 15. [11] Füssel, 2003, S. 84.


[i] Tilton, 2003, S. 310: Abb. 20; → Abb. Maier Europa [ii] Maier, 1618[b]: Titelblatt; → Abb. Maier Viatorium [iii] Scholz (Hg.), 2000, S. 55; Anleitung […], 1790]: Frontispiz; → Abb. Frau und Zahlenmystik [iv] Jahnke, 1987; → Abb. Dürer Melencolia I [v]http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Lucas_Cranach_d._%C3%84._034.jpg&filetimestamp=20050519080725 (1.08.2012); → Abb. Cranach Melancholie [vi] Burgkmair 1973 [b], S. 15; http://dfg-viewer.de/show/?set[mets]=http%3A%2F%2Fdaten.digitale-sammlungen.de%2F~db%2Fmets%2Fbsb00013106_mets.xml (24.04.2012) → Abb. Theuerdank 113 BSB [vii] Burgkmair, 1973 [a]: Abb. 24; Stamler, 1508: Titelblatt; http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10140928_00002.html (14.04.2012); → Abb. Burgkmair Stamler 1508

36. Kap./3 * Natura als Lehrerin [+ Audio]

Audio auf Youtube: http://youtu.be/YIWfMIvxQ8M

Die Göttin Natura tauchte im Hohen Mittelalter erstmals in Schriften der Schule von Chartre auf und man kann dies Ereignis im Hinblick auf die nachfolgende Renaissance tatsächlich als die „Entdeckung der Natur“ bezeichnen.[1] Der Kölner Philosoph Andreas Speer untersuchte die theoretische Motivation dieser Gelehrten. Für sie war demnach Platons Aussage im „Timaios“ wichtig, dass „alles, was entsteht, aus einer notwendigen Ursache entsteht”.[2] Die „philosophia mundi“ suchte nach den „causae rerum“ und wollte diese auf die zugrundliegenden Prinzipien zurückführen.[3] Die Physik (physica) werde „zur Wissenschaft von der mathematisch zu begreifenden Natur der sinnfällgien Welt“ (mundus sensibilis). [4]

Das Erwachen der Metapysik müsse in einem ursächlichen Zusammenhang mit jenem Vorgang gesehen werden, den der französische Theologe Marie Dominique Chenu als „la découverte de la nature“ bezeichnet hat.[5] Hierfür war die verstärkte Aristoteles-Rezeption vor der Mitte des 12. Jahrhunderts entscheidend, wobei dessen Metaphysik als Modell diente.[6] Es kam zu deren Wiederentdeckung und Aneignung durch den lateinischen Westen im 12. bis 14. Jahrhundert. Dabei sei die scientia naturalis „als Prinzip im Kontext des christlichen Erbes als Bildungselement enthalten“ gewesen und als „eigenes Eigentum“ zu betrachten, wie der Bonner Philosoph Wolfgang Kluxen betonte. Es sei keine geschichtliche Legitimation für die heutige Wissenschaft möglich, „die das 12 Jahrhundert überspringt oder auch nur es nicht zum Ausgangspunkt nimmt.“[7] Mit dem Aufblühen allgemeiner Bildung im späten Mittelalter brach gleichzeitig „das Goldene Zeitalter der Magie“ an, die nun nicht mehr nur von einigen wenigen Spezialisten betrieben wurde.[8]

An erster Stelle ist Alanus ab Insulis zu nennen, der in seinem „Anticlaudian“ die Erschaffung des „neuen Menschen“ episch darstellte. Die Schrift schildert Natura als „große Künstlerin“, als „sollers“ (von sollus = ganz und ars = Kunst), als „ganz Kunst“ und jungfräuliche „Mutter aller Dinge“.[9] Die Natur wurde hier – im Unterschied zur Weltanschauung der Katharer (Kap. 9) – nicht verteufelt, sie repräsentierte nicht das Böse, sondern erschien ihm Gegenteil als die weise Führerin des Menschen, den sie mit Verstand (ratio) ausgestattet habe.[10] Nicht die Natur, sondern das, was von ihrer Wahrheit ablenkt, erschien jetzt als böse. Die Natur als Malerin male die Blüten, die einer königlichen Botschaft glichen. Bei Bernhard von Silvestris, einem weiteren Vertreter der Schule von Chartre, war Urania die „Königin der Sternenweisheit“. Diese Königin in Gestalt des Sternenhimmels spiegelte sich nach dieser Auffassung in der irdischen Blütenwelt. [11] Damit wurde ein naturphilosophischer Topos ins Spiel gebracht, der immer wieder bis ins 19. Jahrhundert hinein in der wissenschaftlichen Literatur auftauchte. So formulierte der Schweinfurter Arzt und Mitbegründer Academia naturae curiosorum, der späteren „Leopoldina“: „Im Himmel gibt es einen Glanz von glitzernden Sternen gleichwie Blümchen, auf Erden gibt es die auserlesenste Ausstrahlung von seltensten Blumen gleichwie Sternen […]. Das ist das Werk der Baumeisterin Natur (Architectricis Naturae)“. Und im Geiste des Hermetismus, namentlich der Tabula smaragdina, forderte er die Leser auf: „glaube (crede) das unten, was du oben siehst. Kein Wunder.“[12] Einen späteren Nachklang zu dieser magischen Verknüpfung der Sterne mit den Blüten, des himmlischen Lichts mit der irdischen Blumenwelt, finden wir bei dem Physiker und Naturphilosophen Gustav Theodor Fechner in der Mitte des 19. Jahrhunderts. In seiner Aufsehen erregenden Schrift „Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen“ erklärte er seinen Buchtitel folgendermaßen: „Nanna, Baldurs (des Lichtgottes) Gattin, ist die Blüte, die Blumenwelt, deren schönste Zeit mit Baldurs Lichtherrschaft zusammentrifft. […] die Poesie des Alterthums denkt sich den zartesten Blumenglanz nie anders als vom Thau [Tau des Himmels] gebadet.“[13]

In der „Klage der Natur“ stellte Alanus Natura als Nährmutter dar, die den Mikrokosmos dem Makrokosmos ähnlich gestaltet habe: „Wie konnte dich mein Erscheinen so erschrecken? […] Wie konnte deinem Gedächtnis entschwinden, daß ich [Natura] es bin, deine dir so innig vertraute Nährmutter, die die menschliche Natur der großen Welt so ähnlich gestaltete, daß in ihr wie in einem Spiegel die Weltenschrift erscheint?“[14] Die Metapher des Risses im Gewand der Natur und die ihrer gewaltsamen Enthüllung verdeutlichen die Laster der Menschen, die sich an ihr gewissermaßen vergreifen und sie in ihrer Integrität verletzen. „Es sind die Laster, die den Menschen zu seiner Ehrfurchtlosigkeit gegen die eigene Mutter Natur verführen, so daß er sie mit gewalttätiger Hand ihrer Hüllen berauben will, indem er das größte Chaos der Mißhelligkeit (maximum chaos dissensionis) zwischen sich und ihr zu einem Dauerzustand macht. Es ist einzig und allein der Mensch, von dem ich [Natura] solches erdulden muß!“[15] Hier tritt bereits das von Friedrich Schiller bearbeitete Motiv des „verschleierten Bildes zu Sais“ in Erscheinung: die Vergewaltigung der Natur durch den Menschen (Kap. 4). Im Unterschied zu diesem schilderte Alanus jedoch nicht die Folgen der Freveltat für den Menschen, sondern das subjektive Leiden der Natur, indem er ihre Klage über das maximum chaos dissensionis zu Sprache bringt.

Die Humanisten der Renaissance knüpften an dieser neuen Aufwertung der Natur an. So verwies Erasmus von Rotterdam in seiner Schrift „Lob der Torheit“ (Moriae Encomium) auf die Natur als Maßstab für das Leben der Menschen. Wir wollen im Folgenden der deutschen Übersetzung von Sebastian Franck folgen.[16] Erasmus lobte darin das „schlecht einfeltig volck“, das ohne alle Künste „allein auß anregen vnd eingeben der natur lebt.“ [17] Wo viel Weisheit, da sei auch viel Unnützes, steht in einer Randglosse, „vnd wer vil erfert der mûß vil leiden.“[18] Die Natur hasse alles Blendwerk, meinte Erasmus im Hinblick auf die Bienen: „Die natur haßt das fitzen / vermenteln / gleissen / vnd bekompt vil glücksäliger das mit keiner kunst ist gefälscht vnd geschwecht.“ Überhaupt sei die Natur „der kunst meisterin / lererin / erfinderin / angeberin“ nicht umgekehrt – ein Schatz, der vergeudet sei, wenn er nicht gebraucht werde.[19] Erasmus nahm die „Gelehrten / die verkerten“, darunter auch Ärzte und Juristen als „böse Christen“ aufs Korn, die die eigene Seele zu heilen versäumten bzw. Gottes Gebot missachteten, sodass „weder der Artzt wol lebt / noch der Jurist wol stirbt.“[20] Erasmus referierte das „Lob des Esels“ von Agrippa von Nettesheim. Einem „jungen der weissheit“ seien Art und Eigenschaft eines Esels vonnöten, nämlich: „Eins vnschüldigen reinen hertztens / on Gallen / mit allen Thieren fried habende / der seinen ruck [Rücken] gedültig vnder alle bürde thůt.“[21] Erasmus mahnte den Leser, eine christliche Haltung einzunehmen: „gedencke nun das du zum Thoren vnd Esel werdest / wiltu vor Gott / weyß / ein Engel / vnd ein Gaist mit jm werden.“[22]

Rund 70 Jahre nach Agrippa demonstrierte ein Emblem aus der „Atalanta fugiens“ (1618) von Michael Maier treffend die Natur als Führerin des forschenden Menschen. (Abb. [i]) In Gestalt der wissenden Frau schreitet sie voraus, in ihren Fußstapfen (quasi Wegweiser) läuft ihr ein Naturforscher mit Gehstock (quasi Vernunft), Brille (quasi Erfahrung) sowie einer Laterne (quasi Licht zum Studium der Schriften) hinterher. Der Gelehrte soll also den Spuren der Natur folgen, in ihre Fußstapfen treten, lautet die Botschaft. In der Übersetzung von 1708 wurde dieses Emblem als „Zwey und viertzigstes Sinnbild von Geheimnuß der Natur“ folgendem Motto unterstellt: „Dem Sucher der Chymischen Kunst muß die Natur / Vernunfft / Erfahrenheit und das fleissige Lesen / Leiten / und an statt eines Führers / Stabs / ja einer Leuchte und Lampe dienen.“ Das entsprechende Epigramm („Überschrifft“) lautete:

„Dich leitet die Natur / drum folge ihren Wegen /

Sonst tritt’st du aus dem Pfad der rechten Wahrheits Bahn:

Dein Staab sey die Vernunfft / das Licht muß dir zulegê

Die edle Wissenschafft / wañ du das Werck fängst an.

Das Lesen ist die Lamp so in dem Finstern scheinet /

Doch überleg dabey was auch der Weiß recht meinet.“[23]

Wie in der Erläuterung dargelegt wird, seien hiermit die vier Räder des philosophischen Wagens dargestellt: Natur, Vernunft, Erfahrung und die philosophischen Bücher. Für die „Chymisten“ sei die Natur zu beachten, denn sie sei „auff dieser Reise der Wegweiser[,] deren Fußstapffen man folgen muß.“[24] In diesem Sinne wurde die Natur als „Dein Führerin“ (dux natura tibi) bezeichnet:

„Dein Führerin die Natur sey / welch’r du must folgen von weiten /

Williglich / anderst du jrrst, wo sie dich nicht thut leyten“.[25]

Eine hermetisch aufgeladene Modifikation dieser Illustration ist auf dem Titelblatt des Musæum Hermeticum“ (1625) zu sehen. Gegenüber der oben skizzierten Abbildung fallen einige interessante, aber nicht wesentliche Abweichungen auf. (Abb. [ii]) Hier ist Michael Maiers Natura-Dux-Emblem in etwas gröberer Ausführung in ovalem Rahmen zu sehen. Natura trägt einen sechseckigen Stern (Hexagramm, Davidstern), ein mehrdeutiges hermetisches Symbol der Verwobenheit von Himmel und Erde, in einer Leuchtkugel in der rechten Hand. Sie ist doppelbrüstig und bis zum Gürtel entblößt, was an Darstellungen der vielbrüstigen Isis erinnert. Einem Gelehrten mit Brille, Stock und Laterne folgt ein zweiter in einiger Entfernung mit denselben Attributen. Hier erscheint also Natura noch eindeutiger als Göttin eines alten Geheimwissens, in deren Fußstapfen die Naturforscher treten sollen, um ihr nachzufolgen.

Anmerkung vom 20.07.2016

Die Natur kann auch als eine „Schifferin“ erscheinen, die dem Betrachter einen Platz in ihrem Kahn anbietet, womit sie ihn über ein Gewässer setzt. Zu diesem Bildmotiv siehe mein Supplementary Blog.

Auch im frühen 18. Jahrhundert begegnen wir in naturhistorischen Abhandlungen dieser Metaphorik von der notwendigen Nachfolge, wie folgendes Zitat zeigt: „Denn so ein Künstler den Weg der Natur nicht weiß, weiß auch nicht, wie die Natur arbeitet, derselbe kann ohnmöglich die Natur verstehen, sondern er muß blind auf die vorgeschriebenen Processe fallen, solche arbeiten und vielfältig drinnen fehlen, dieweil er weder regulam noch rationem verstehet.“[26] Freilich benötige die kranke Natur im Menschen der Beihilfe des gelehrten Arztes: „Denn die kranke Natur oder morbose Archaeus hat nichts von Nöthen als eine starcke Beyhülffe, dieweil ihn die Kranckheit überwunden und obsieget […] Denn ein gelehrter Medicus weiß wohl, daß die Natur nicht mehr als eine confortation vonnöthen, durch welches sie schon selbst wieder potens wird sich zu helffen; solche confortation aber könne besser nicht erlanget werden, als durch solche regeneration in Quintam Essentiam, da alles rein und pur und eine fixe und spiritualische Medicin ist.“[27]


[1] Speer, 1995. [2] Ebd., S. 290. [3] A. a. O., S. 291. [4] A. a. O., S. 293. [5] Chenu, 1957, S. 21-30; Speer, 1995, 294. [6] A. a. O., S. 297. [7] Zit. n. Speer, 1995, S. 301; Kluxen, 1981, S. 289. [8] Kieckhefer, 1992, S. 78. [9] Zit. n. W. Rath, 1983, S. 51. [10] W. Rath, 1983, S. 54. [11] A. a. O., S. 56. [12] Bausch, 1666, S. S. 202 f.; [Übersetzung:] zit. n. H. Schott, 2008 [a], S. 209. [13] Fechner, 1848, S. IV. [14] Zit. n. W. Rath, 1983, S. 59. [15] Zit. a. a. O., S. 65. [16] Erasmus von Rotterdam, ca. 1543. [17] Ebd., Bogen 28, S. 3. [18] A. a. O, Bogen 29, S. 1. [19] A. a. O., Bogen 112, S. 1. [20] A. a. O., Bogen 116/S. 1. [21] A. a. O., Bogen 86, S. 2. [22] A. a. O., Boten 90, S. 1. [23] Maier, 1708, S. 124; http://diglib.hab.de/wdb.php?dir=drucke/nd-773 (21.01.2012). [24] A. a. O., S. 125 ; http://diglib.hab.de/wdb.php?dir=drucke/nd-773 (21.01.1012). [25] Maier, 1618 [a]; S. 176 ;  http://dfg-viewer.de/show/?set[image]=178&set[zoom]=default&set[debug]=0&set[double]=0&set[mets]=http%3A%2F%2Fdbs.hab.de%2Foai%2Fwdb%2F%3Fverb%3DGetRecord%26metadataPrefix%3Dmets%26identifier%3Doai%3Adiglib.hab.de%3Appn_664504825 (21.01.2012). [26] Kirchweger, 1723: Vorrede. [27] Ebd., S. 283 f.


[i] Maier, 1618 [a], S. 177; De Jong, 1969, S. 418 ; → Abb. Michael Maier Natura [ii] Musaeum hermeticum, 1625; http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/11683/7/cache.off?Seite=&cHash=a69b932d870b9c2a98ca4178d360d826 (14.07.2012); → Abb. Musaeum hermeticum Titelblatt

35. Kap./1 * Kosmische Begattung [+ Audio]

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Es gibt keine bessere Einführung zur „chymischen Hochzeit“ als die eindrücklichen Buchillustrationen von alchemistischen Begattungen, coniunctiones. Personifierte Planeten und ihnen analoge Metalle kopulierten als Mann und Frau, etwa Sonne (Gold) und Mond (Silber), wie der Kupferstich von Matthäus Merian dem Älteren in Michael Maiers „Atalanta fugiens“ zeigt. (Abb. [i]) Unter der Überschrift „Im Wasserbad wirt empfangen / und in der Lufft geboren […]“ (in balneis concipitur, & in aere nascitur […]) ist im deutschen Epigramm ist zu lesen:

„IM Wasserbad geschehn ist sein Empfängnuß / aber in Lüfften

Ist er geborn und roht geht uber die Wasserklüfften /

Er wirt auch weiß in der Höhe der Berg / so der Weisen allein

Angenemmer und einig Hertzenlust pfleget zuseyn /

Es ist ein Stein / und auch nicht / welch himmlisch und edle Gaben /

Gelücklich ist / so jemand auß Gotts Geschenck wirt haben.“[1]

Auch im „Donum Dei“, einer alchemistischen Zitatensammlung aus dem 17. Jahrhundert, werden kopulierende Paare gezeigt, um einzelne Stufen der alchemistischen Operation zu veranschaulichen: So die Solutio Perfecta (Abb. [ii]) und die „Putrefactio“(Abb. [iii]) Das „Rosarium philosophorum“ mit dem „Sol und Luna“-Gedicht, das Arnald von  Villanova zugeschrieben wird und erstmals 1550 anonym im Druck erschienen ist, enthält eine Serie von 20 Holzschnitten, die die „Coniunctio“ in ihrem prozesshaften Ablauf darstellt. Seiner psychologischer Deutung von C. G. Jung widersprach der Germanist und Paracelsismusforscher Joachim Telle, der diese Engführung angesichts des mangelhaften Wissens um die naturkundlich-handwerkliche Verankerung des Textes kritisierte.[2] Die Vereinigung von Sol und Luna wird auf dem fünften Holzschnitt gezeigt. (Abb. [iv]) Die unten liegende Luna sagt zu Sol: „O Sol / du bist über alle liecht zu erkennen / So bedarffstu doch mein als der han der hennen.“[3] Dass Sol und Luna einander begehren wie Hahn und Henne machte auch Michael Maier, der von der Bildwelt des „Rosarium“ beeindruckt war, in seiner „Atalanta fugiens“ deutlich. Im Emblem XXX, das wie die übrigen von Matthäus Merian getochen wurde, sind zu Füßen der beiden Himmelsgestalten Hahn und Henne unter der Überschrift „Sol indiget lunâ, ut gallus gallinâ“ (die Sonne braucht den Mond wie der Hahn die Henne) leibhaftig zu sehen. (Abb. [v])

Die eingehendste Interpretation dieses Bildmotivs der coninuctio lieferte Telle, der wohl als erster dessen literatur- und alchemiegeschichtlichen Zusammenhänge und Hintergründe systematisch aufdeckte und die entsprechenden Bilderserien im Anhang seines Werkes zusammenstellte.[4] Solche Darstellungen der coniunctio oder „chymischen Hochzeit“ vermittelte als Akt der Vereinigung eine wichtige Botschaft: Sie sollte den Stein der Weisen hervorbringen, die „rote Rose“ (rosa rubea), die höchste Form der Geistigkeit, und eine neue harmonische Ordnung als Vorzeichen einer neue Weltharmonie (harmonia mundi) stiften.

Neben der coniunctio von Sol und Luna in Gestalt eines kopulierenden Menschenpaares gab es auch eine Vereinigung der beiden innerhalb eines androgynen kosmischen Wesens in Menschengestalt. Das Titelblatt von Johann Joachim Bechers „Physica subterranea“ zeigt eines solche Zusammenführung, deren Erotik sich aus dem Binnenverhältnis von Körperteilen zueinander ergibt und nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. (Abb. [vi]) Wie der griechische Subtitel „ΤΟ ΣΥΜΠΔΝ“ (das Ganze) angibt, soll diese Abbildung das alles Umfassende darstellen. Der Wissenschaftshistoriker Claus Priesner verfasste hierzu unter der Überschrift „Die Reifung der Metalle im Schoß der Erde“ folgende Legende: „Der Körper smbolisiert die Erde, der Kopf die Sonne. Am Hals ist der Mond zu sehen. Sonne, Mond, Sterne und Planeten geben allem Leben die Kraft, zu gedeihen. Im Innern der Erde reifen die Metalle wie auch die Planeten und der Mensch heran. Die Erde hält Leier und Dreieck in Händen, Zeichen für Harmonie und Symmetrie. Die Hände an den Seiten stehen für Vernunft und Erfahrung, die der Forscher verbinden muss.“[5] Darüberhinaus präsentiert die Abbildung einige erotische Momente, die kaum zu übersehen sind. Der Rumpf der Erde stellt eine nackte Frau mit Brüsten dar, in deren Innerem eine menschliche Leibesfrucht mit Nabelschnur zu sehen ist. Sie liegt in einem Uterus, der wie ein Herz im Brustbereich unterhalb des Halbmondes lokalisiert ist: ein Kind von Sonne und Mond? In der Oberbauchhöhle reifen die Pflanzen, in den Eingeweiden des Unterbauchs die Metalle. Der „Schoß der Erde“ bedeutet nicht nur die soeben beschriebenen Inhalte des Leibs der Erde, sondern auch den Rahmen, der den Blick auf die Erde freigibt. Die gespaltene Vorhang, der lappenförmig aufgehoben ist und den Blick auf die Sonne-Mond-Erd-Frau freigibt, erinnert an die Vulva, deren Schamlippen den Blick in die Vagina freigeben.

Anmerkung vom 13.01.2017

Es gibt ein zeitgenössisches Gemälde von Markus Schinwald, das man an diese Konstellation erinnert. Näheres in meinem Supplementary Blog.

Diese anatomische Assoziation passt durchaus zum Thema, da so der Zugang zur „Mutter“, d. h. Gebärmutter, sichtbar wird. Die Sonne-Mond-Erde-Frau hält in ihrer linken Hand ein Dreieck („Symetria“ [sic]) und in ihrer rechten eine Leier („Harmonia“) − Andeutungen auf die harmonia mundi (siehe unten).

Der italienische Maler und Kupferstecher Agostina Carracci schuf um 1600 erotische Radierungen, die Götter der Mythologie wie Mars und Venus oder große historische Persönlichkeiten wie den römischen Feldherrn Marcus Antonius und die ägyptische Königin Cleopatra beim Geschlechtsakt zeigen.[6] Als Beispiel sei hier der Koitus von Mars und Venus wiedergegeben. (Abb. [vii]) Nur das prachtvolle Himmelbett mag noch an die Heilige Hochzeit des römischen Götterpaares erinnern (Kap. 45). In der Alchemie, in der es auch um die Legierung von Metallen ging, symbolisierte Mars das Eisen und Venus das Kupfer.   Diese Graphiken erschienen fast 200 Jahre später als Kupferstiche unter dem Titel L’Aretin d’Augustin Carrache“.[7] Gerade im Zeitalter der französischen Aufklärung, das auch als „das erotischen Jahrhundert“ in die Kulturgeschichte einging, waren solche Illustrationen von großer Attraktivität. Man könne beobachten, so ein Kommentator, „wie sich das erotische Klima dieses erotischen Jahrhunderts in der Kunst und in der Gesellschaft entwickelt, oder sagen wir auch: im Künstlerischen wie im Privat-Menschlichen.“[8] Wir werden auf dieses „erotische Klima“ noch einmal zurückkommen (Kap. 45).


[1] Maier, 1618, S. 144; Telle, 1980, S. 3. [2] Roob, 1996, S. 449. [3] Zit. ebd. [4] Telle, 1980, S. 189-251. [5] Priesner, 2009, S. 69. [6] http://it.wikipedia.org/wiki/Agostino_Carracci (11.08.2012). [7] Carrache [1602/1798], 1985. [8] Jacobson, 1989, S. 71.


[i] Maier, 1618, S. 145 [Emblem 34]; → Abb. Michael Maier Atalanta fugiens 34. [ii] Roob, 1996, S. 443; → Abb. Solutio perfecta [iii] Roob, 1996, S. 444; → Abb. Putrefactio [iv] Roob, 1996, S. 450; → Abb. Sol und Luna  [v]Telle, 1980, S. 249: Abb. 70; Maier, 1618, S. 29: Emblem 30 [http://diglib.hab.de/drucke/196-quod-1s/start.htm?image=00131 (23.07.2012)] → Abb. Maier 1618 Emblem 30 [vi] Priesner, 2009, S. 69; Becher, 1703: Titelblatt; → Abb. Becher 1703 physica subterranea [vii] Brunn, 1989, 3. Bd., S. 23; → Mars und Venus 1798 

34. Kap./2 * Der reinigende Aufstieg

Hereward Tilton, ein britischer Experte für die frühneuzeitliche Esoterik in Deutschland, hat sich intensiv mit dem Werk Michael Maiers auseinandergesetzt.[1] Er verwies auf die Deutung der Alchemie durch C. G. Jung, die sich auf das frühe Werk „Probleme der Mystik und ihrer Symbolik“ des Psychoanalytikers Herbert Silberer stützte.[2] Dieser hatte sich seinerseits auf die Alchemie-Interpretation von E. A. Hitchcock bezogen (Kap. 45), den er sinngemäß mit dem Schlüsselsatz zitierte „Das Subjectum ist – der Mensch“.[3] Aus diesem Blickwinkel entfaltete Tilton seine Interpretation der Alchemie als spirituellen Prozess am Beispiel Michael Maiers. An Heilige Dreikönige (Epiphany) 1604 begann Maier mit seinen alchemistischen Experimenten, die bis Ostern dauerten. Er beobachtete die entscheidenden vier Phasen des alchemischen Prozesses, deren unterschiedliche Färbung vier Vogelarten zugeordnet wurde: Die schwarze Phase entsprach dem Raben, die weiße der Taube, die gelbe dem Phoenix und die rote dem Pelikan.[4] Seit dem Mittelalter gab es eine alchemistische Allegorie zur christlichen Passions- und Auferstehungsgeschichte, wobei die schwarze Phase der Passion Christi, die weiße Phase der Loslösung der Seele beim Tod und die rote dem Wiedereintritt des Geistes in einen reinen Körper bei der Auferstehung entsprach.[5] Die Gleichsetzung von Christus mit dem Stein der Weisen habe, so Tilton, lang zurückeichende Vorbilder, bei Maier handele sich aber eher um eine „sympathetic correspondence“ als um eine „identity“. Ähnlich habe es Khunrath gesehen (siehe unten).

Maier visualisierte eine alchemistische Leiter, um den Prozess des Goldmachens als einen Aufstieg zu charakterisieren. In einem Briefmanuskript an Landgraf Moritz von Hessen-Kassel schrieb er 1611, dass die meisten diese Leiter nicht kennten. Er stünde auf der vorletzten Sprosse und habe keine Mittel, weiterzusteigen. Nichts sei schwieriger, als die letzte Sprosse zu erreichen. Maier gab in einer Anlage zu seinem Brief eine Tafel bei, auf der von unten nach oben die 18 Stufen verzeichnet waren, von der ersten („That the aim of the Art ist not vulgar.“) bis zur letzten („The final operation reaching the ultimate goldenness.“)[6] In einem anderen Manuskript an Moritz von Hessen-Kassel beschrieb Maier einen goldenen Berggipfel, zu dessen Besteigung eine Leiter notwendig sei, ohne die man sich das Genick breche.[7] Einen ähnlichen Vergleich zwischen der alchemistischen Suche und dem Bergsteigen zog Maier in seinem „Viatorium“ von 1618. Offenbar hatte er diese Leiter-Metapher von dem Alchemisten Morienus (Morienus Romanus) übernommen, der in „De re metallica, metallorum transmutatione […]“ vom Aufstieg auf einer Leiter ohne Stufen gesprochen hatte. In Maiers Symbola aureae mensae“ zeigt eine emblematische Illustration Morienus, der in didaktischer Pose auf einen Mann verweist, der im Hintergrund rücklings an einer Hauswand herunterfällt: „without a ladder you will fall on your head”.[8](Abb. [i]) Maier unterschied zwei Methoden der Goldmacherkunst: Fermentation (wie Sauerteig) und Projektion (gewaltsame Penetration, sofortige Transmutation), wie sie auch in Martin Rulands „Lexicon Alchemiae“ verzeichnet waren.[9] Die letztere, schnelle Methode sei, so Maier, Scharlatanerie.

Der Alchemist und Kabbalist Heinrich Khunrath veranschaulichte in seinem „Amphitheatrum Sapientiae aeternae“ den Aufstieg des Magiers in einer Serie von elf Kupferstichen.[10] Die Himmelspforte (Porta amphitheatri sapientiae aeternae solius verae) befindet sich auf dem Gipfel des Berges.[11] (Abb. [ii]) Ein Lichtstrahl von oben trifft auf Wanderer, die zu dieser Pforte  nach oben ziehen. Aus der Nähe betrachtet ist diese Pforte ein tunnelartiger Gang, zu dessen lichter Öffnung man über eine Treppe gelangt.[12] (Abb. [iii]) Der Aufstieg zur Teilhabe an der göttlichen Weisheit geht über00 sieben Grade oder Stufen.[13] Die alchemistische Läuterung wurde in Analogie zur Passio Christi als ein Wandlungsprozess des Menschen empfunden, „an dessen Ende die Unio mystica mit der sapientia steht.“[14] Oben auf dem bergigen Felsen wachsen Eichenbäume, vor denen in einem Felsen eine Inschrift zu lesen ist: „Procul hinc abeste profani.“ (Nicht Eingeweihte, bleibt fern von hier). Auf einem weiteren kreisförmigen Kupferstich ist oben ein göttlicher Strahlenkranz (Inschrift: אַשׁ ) zu sehen, darunter ein Pfau, der ein Rad schlägt (Azoth), darunter die androgyne Figur mit einem Doppelkopf aus Sonne und Mond, die eine Kugel hält (Materia prima), darunter ein größerer Kreis mit Erdkugel und einer kleineren Kugel innnerhalb der Erdkugel (Chaos).[15] Ein weiterer Kupferstich zeigt das alchemistische Labor mit einem betenden Alchemisten auf Knien[16]

Khunrath stand mit dem nachreformatorischen säschsischen Theologen Johann Arndt in Kontakt, dessen Verknüpfung von paracelsischer Naturphilosophie mit alchemistisch inspirierter Mystik ihn beeinflusste.[17] Vielleicht wandte er sich deshalb in seiner „Ikonographia“ vehement gegen die Bilderstürmerei, „das nicht etwa der gemeine Mann die Geistlichen Bildtnussen / darin sich Gott so wol im newen / als im alten Testament / geoffenbaret hat / für ein Grewel halte.“ [18] Für ihn bedeuteten die Imgines mysticae „die Göttlichen Offenbarungen durch Bilder / im newen Testament.“[19] Es sei „nicht vnrecht / nicht Abgötterei oder Gottlos […] / Bilder zu haben“, wenn sie „jren vhrsprung aus der Natur haben.“[20] Man solle wissen, „das die Natur jrem Schöpffer nachahme.“ Und mit dem ausdrücklichen Hinweis auf das „Amphitheatrum“ von Khunrath bezeichnete Arndt die Bilder in der Natur als Gottes Buchstaben, „dadurch Er die Natur gründtlich außleget/ allen denen / die es verstehen / vnd diese wünderliche Schrift vnd Buchstaben Gottes lesen können […] das Alphabet ist die Signatur, wer diß Alphabet  wol kann / der kan darnach baldt lesen lernen / vnd der Natur Arcana verstehen.“[21] Weil die Natur sich aus Gottes Ordnung durch Bilder offenbare, sei es nicht nur unrecht, sondern „eine grosse Gottlosigkeit vnd vnwissenheit, dieselbe verwerffen oder verachten.“[22]

Tilton arbeitete die Ähnlichkeiten zwischen den ursprünglichen Rosenkreuzern des frühen 16. Jahrhunderts und den esoterischen Strömungen des 19. Jahrhunderts heraus: Das vitalistische Konzept der Alchemie als einer universalen Wissenschaft („spiritual alchemy“); eine alchemistische Naturphilosophie, wobei Maier wie keine anderer diese mit den Rosenkreuzeren verknüpft habe; ein besonderes Bemühen um die Entzifferung der „Hieroglyphen“; und schließlich die Ägyptenverehrung, die in der prisca sapientia-Doktrin der Renaissance wurzelte. Die Verbindung von Alchemie mit ideologischen Elementen sei  noch in den esoterischen Zirkeln des 19. Jahrhunderts präsent gewesen und habe die Grundlage für die alchemistische Hermeneutik (alchemical hermeneutic) gebildet, die zuerst von Silberer und dann von C. G. Jung eingesetzt wurde.[23]

Paracelsus stellte im „Paragranum“ die Alchemie als die dritte Säule der Arznei dar.[24] Er wollte in erster Linie die galenische Humoralpathologie, die traditionelle Viersäfte-Lehre, überwinden und die Medizin im Geiste der Renaissance auf eine naturphilosophisch-alchemistische Grundlage stellen. Die Natur betreibe in ihrer Tätigkeit (als vulcanus) selbst das Geschäft der Alchemie, sei selbst die umfassende Magierin (maga), welche die natürlichen Dinge zubereite – aber nicht bis zu ihrem „Ende“. Es sei die Aufgabe des Menschen (als philosophus, Arzt, Apotheker), das Geschäft der Natur zu vollenden. So erschien die (medizinische) Alchemie als „Scheidekunst“, die mit dem „Feuer“ das „Gift“ von den arcana abzuscheiden, d. h. die Schlacke vom reinen Wirkstoff der Arznei zu trennen habe. Gemäß dem Grundsatz des in der Renaissance aufblühenden Hermetismus „wie oben, so unten – wie außen so innen“ entsprach der „äußeren“ Alchemie in Natur, Küche oder Laboratorium eine „innere“ Alchemie im menschlichen Magen. In diesem Zentralorgan in der Mitte des Leibes sitze der Lebensgeist (spiritus vitae), wurzele die Seele. Paracelsus benutzte hierfür auch die Begriffe „geist microcosmi“, archeus oder vulcanus. Er stellte ihn sich vor wie den Scheidekünstler in der alchemistischen Küche. Die Krankheiten entsprängen demnach immer aus einer Verletzung des Lebensgeistes. In dem Buch „von den Krankheiten, die der Vernunft berauben“ erklärte er die Ursache der „fallenden Siechtagen“ (Fallsucht) dementsprechend: „die krankheit kompt vom ufwallen der dempfen in spiritu vitae und nicht durch andere humores oder qualitates, so auch im leibe sein. Wenn der spiritus vitae verwandelt wird aus seiner rechten disposition, so ersiedet er und gibt ein ufwallen; […] als wen ein erdbidem [Erdbeben] kompt der den ganzen bodern erzittert.“[25] Die Analogie von Fallsucht und Erdbeben war für Paracelsus evident und im Sinne der Mikrokosmos-Makrokosmos-Lehre naheliegend: „dan terrae motus ist auch hominis motus und arborum motus und allen deren, die da wachsen […] also ist auch die fallende krankheit im leib also“.  

Die Begriffe archeus, vulcanus und spiritus vitae hatten eine kosmologische und theologische Dimension, da sie als Akteure im Mikrokosmos zugleich mit korrespondierenden Akteuren im Makrokosmos in Verbindung standen, diese widerspiegelten. Vulcanus enstprach nicht nur der Natura in ihrer Funktion als Schmiedin des Lebendigen, sondern war zugleich der Repräsentant der Weltseele oder des Heiligen Geistes im Menschen – eine Voraussetzung jeglicher Mystik. Die französische Philosophin Simone Weil verwies einmal auf die Rolle des Hephaistos in der Tragödie „Der gefesselte Prometheus“ von Aischylos: „Hephaistos ist ein Schmiedegott. Es ließe sich eine Religion der Schmiede denken, die in dem Feuer, welches das Eisen schmiegsam macht, ein Gleichnis der Wirkung des Heiligen Geistes auf die menschliche Natur sähe.“[26] Dies kommt dem Selbstverständnis der Alchemisten ziemlich nahe.


[1] Tilton, 2003. [2] Silberer, 1914. [3] Tilton, 2003, S. 25. [4] A. a. O., S. 65. [5] A. a. O., S. 67. [6] A. a. O., S. 91. [7] A. a. O., S. 94. [8] A. a. O., S. 95. [9] Ruland, 1612, S. 384 bzw. 211.[10] Khunrath, 1608. [11] Ebd., S. 156. [12] A. a. O., S. 158. [13] H.-P. Neumann, 2004, S. 149. [14] A. a. O., S. 150. [15] Khunrath, 1608, S. 161. [16] A. a. O., S. 162. [17] H.-P. Neumann, 2004. [18] Arndt, 1596, S. 11. [19] A. a. O., S. 24r-27v. [20] A. a. O., S. 32v-37v. [21] Ebd. S. 33r. [22] A. a. O., S. 37v. [23] Tilton, 2003, S. 254. [24] Paracelsus, Ed. Sudhoff, Bd. 8, S. 133-221. [25] Paracelsus, Ed. Sudhoff, Bd. 2, S. 396. [26] Weil, 1956, S. 429.


[i] Tilton, 2003, S. 304: Abb. 14; → Abb. Maier Morienus [ii] H. Kunrath, 1609 [S. 267]; → Abb. Khunrath Porta amphitheatri http://diglib.hab.de/drucke/438-theol-2f/start.htm?image=00267 (21.01.2013)

[iii] H. Khunrath, 1609 [S. 274/275]; Abb. Khunrath Treppe links und Abb. Khunrath Treppe rechts bzw. Abb. Khunrath Treppe Gesamtbild; http://diglib.hab.de/drucke/438-theol-2f/start.htm?image=00274; http://diglib.hab.de/drucke/438-theol-2f/start.htm?image=00275 bzw.http://p2.la-img.com/375/29185/11269804_1_x.jpg (21.01.2013)