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Der hierarchischen Trias Gott − Natur − Mensch, die wir an anderer Stelle bereits erörtert haben (Kap. 36), entsprach die analoge Trias Sonne − Mond − Erde. In beiden Fällen gab es eine vermittelende Instanz, ein Medium: Natura bzw. Luna. Die Mittelposition zwischen Oben und Unten, Himmel und Erde, wird gerade in den emblematischen Illustrationen deutlich, in denen Natura und Luna eine analoge Stellung einnehmen. Sie werden vom göttlichen Licht bestrahlt, das von ihnen gespiegelt und zur Erde reflektiert wird. An einem Beispiel wird dies besonders deutlich. Das Buch „Septimana Philosophica” (1620) des Arztes und Rosenkreuzers Michael Maier enthält eine interessante kosmologische Illustration: Die Jungfrau Europa im Zentrum wird im Mond (LVNA) reflektiert, der in einer mittlereren Position zwischen Sonne (SOL) und „Europa“ steht. (Abb. [i]) Hier wird also nicht der sprichwörtliche „Mann im Mond“, sondern sozusagen die Frau im Mond sichtbar. Der Mond wird dabei aus zwei Richtungen bestrahlt: einerseits von der Sonne, andererseits von der Erde. Auf der Mondoberfläche werden somit Teile der Erdkugel abgebildet, reflektiert, je nach regionalem Standort des irdischen Betrachters, „so that in Europe may be seen the idea of Europe, in Asia that of Asia [ect.]”.[1] Der Mond fungiert hier als Spiegel der Erde − im Lichte der göttlichen Sonne. Auf dem Titelkupfer von Maiers „Viatorium“, einem alchemistisch-astrologischen Wegweiser, sieht man das Portät des Autors oben in der Mitte, umgeben von der Darstellung der sieben Planeten, wobei auf der rechten Seite die männliche Sonne und darunter der weibliche Mond mit ihren typischen Attributen dargestellt sind (Abb. [ii]). Die Mondfrau trägt eine Umhängetasche und schreitet beschwingt mit ihrem Wanderstab voran. Sie erinnert in ihrer Bewegung an die Natura in einer anderen Publikation von Maier: nämlich im betreffenden Emblem der „Atalanta fugiens“ (Kap. 36).
Natura und Scientia, die generell als recht ansehnliche Frauen personifiziert wurden, waren in ihrer göttlichen Qualität letztlich identisch. Der Mensch konnte sich ihnen allenfalls durch philosophia, als philosophus annähern. Auf dem Frontispiz eines kabbalistischen Lehrbuchs, das Ende des 18. Jahrhunderts anonym erschien, ist eine Frau zu sehen, die offenbar über die Mystik der Zahlen im Sinne des Pythagoras meditiert. (Abb. [iii]). Es fallen einige Besonderheiten auf. Die Frau ist bis zur Gürtellinie entblößt. Sie schaut versonnen und zugleich erwartungsvoll nach oben, am Himmel zeigen sich die Mondsichel und eine Reihe von Sternen, hinter hier steht die Büste des Pythagoras, neben ihr halten ungeflügelte Putten eine große Zahlenscheibe. Die Unterschrift zu diesem Frontispiz lautet: „Le hazard nous éleve en un rang / ou nous n’aurions osé prétendre“. Es geht hier wohl um den göttlichen Einfall, der den Menschen in seiner Erkenntnis selbst zu einem göttlichen Wesen macht. Vor dem Hintergrund der Natura-Ikonographie der frühen Neuzeit lässt sich diese Frauengestalt leicht einordnen. Es handelt sich um die Personifikation der Wissenschaft (Scientia), deren reinste Form die Mathematik darstellt. In ihrer vermittelnden Position zwischen Himmel und Erde wird Scientia identisch mit Natura, indem sie deren Magie unmittelbar nachvollzieht. Die Analogie zu Dürers berühmtem Kupferstich „Melencolia I“ ist frappierend und es ist anzunehmen, dass der anonyme Künstler sich davon anregen ließ. Wir wollen dieses Meisterwerk nun näher beleuchten. (Abb. [iv])
Wie uns der betreffende Wikipedia-Artikel belehrt, gehört „Melencolia I“ aus dem Jahre 1514 neben „Ritter, Tod und Teufel“ und „Der heilige Hieronymus im Gehäus“ zu den drei Meisterstichen Albrecht Dürers. Der Stich gelte „als das rätselhafteste Werk Dürers und zeichnet sich – wie viele seiner Werke – durch eine komplexe Ikonographie und Symbolik aus.“[2] Auf die einschlägigen Bildinterpretationen und die beeindruckende Rezeptionsgeschichte kann hier nicht näher eingegangen werden. Erwin Panowsky meinte, Dürer habe „eine ‚Melancholia artificialis’ oder die Künstlermelancholie“ dargestellt.[3] In dieser Sicht erscheint das Meer als Symbol des Chaotischen, Abgründigen. Hund und Fledermaus gehören „schon traditionell zur Melancholie“.[4] Das Fledermaus-Motiv diente den Humanisten im Guten wie im Bösen als Symbol für nächtliches Wachen oder nächtliche Arbeit: „Nach Agrippa von Nettesheim ist ihre hervorstechende Eigenschaft die ‚vigilantia’, bei Ficino ist sie ein warnendes Beispiel für die aufreibende und schädliche Wirkung des nächtlichen Studiums“.[5] Die weibliche Gestalt der Melancholie wurde vor allem als eine Trauernde aufgenommen: „Das ‚traurige Wissen’ um das ‚zu spät’ von Philosophie und Wissenschaft, die nur interpretierend, aber nicht eingreifend verändernd wirken, sind auch ein Moment der Trauer der Melancholie.“[6] Klibansky, Panofsky und Saxl verwiesen auf die Urfassung der „Philosophia occulta“ von Agrippa von Nettesheim als wichtigste Quelle zum Verständnis von Dürers Melencolia I. Dort kämen „die zwei Kapitel über den ‚furor melancholicus’ dem weltanschaulichen Gehalt des Dürerschen Kupferstichs näher als irgendeine andere uns bekannte Schrift.“[7]
Es hat den Anschein, als hätten sich solche Interpretationen zu sehr vom Begriff „Melancholie“ beeindrucken lassen. Bereist Dürers Ausdruck „Melencolia“ sollte zu denken geben. „Mel“ könnte mit Honig (mellis) assoziiert werden, und „encolia“ weckt die Assoziation „im Himmel“ (en und coelum). Insofern könnte das zuvor betrachtete Frontispiz zur kabbalistischen Wissenschaft neues Licht auf Dürers Stich werfen. Handelt es sich nicht um dieselbe Konstellation? Eine weibliche Figur als Personifikation göttlichen Wissens, als Magierin im Einklang mit der Natur? Ich vermag in ihrer Körperhaltung und ihrem Gesichtsausdruck keine „Verzweiflung“ erkennen, die man ihr immer wieder angedichtet hat. Auch wenn sie in sich gekehrt dasitzt, sind ihrer Augen doch sehend nach oben in himmlische Regionen gerichtet. Was zeigt sich dort? Ein helles, geschweiftes Gestirn, ein Komet, der an den Stern von Bethlehem erinnern mag, und ein Regenbogen, der Irdisches mit Himmlischen verbindet. Zwar ist diese Frau nicht entschleiert, aber sie hat Flügel, ein Hinweis auf ihren engelhafte Charakter als Botschafterin, als Medium zwischen Gott und Mensch. Dürer setzte an ihre Stelle keinen bärtigen Alchemisten, keinen Pythagoras oder sonstigen Magier, sondern diese übermenschliche Frau mit den Flügeln eine Engels oder Genius.
Zur weiterführenden Interpretation hat mir Ernst Theodor Mayer am 15.08.2014 ein Mail geschickt, die ich im Supplementary News Blog publiziert habe:
Dieser Link verweist auf ein Beispiel für die gängige Gleichsetzung von Dürers „Melencolia I“ mit „Melancholie“ im Sinne von „Depression“:
Anmerkung vom 3.12.2014:
Ein rezentes Beispiel für die assoziative Verknüpfung von Dürers „Melencolia“ mit Melancholie als Geisteskrankheit: siehe mein Supplementary News Blog.
Das Ölgemälde „Die Melancholie“ (1532) von Lukas Cranach dem Älteren, das noch in drei weiteren Varianten existiert, weist eine interessante Parallele auf. (Abb.[v]) Auch hier sieht man eine junge Frau mit Engelsflügeln dasitzen. Sie schaut entrückt in Richtung von drei spielenden Knaben, während sie an einem Stock schnitzt. Im Hintergrund reiten Hexen wild auf Ziegenböcken, Schwein und Windhund in einer dunklen Wolke. Sei ent+führen einen rot gekleideten Mann (?). Heutige Interpreten richten ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Hintergrund und sehen darin „Hexerei und sexuelle Unordnung im 16. Jahrhundert“.[8] Die „Schar nächtlich ausfahrender Geistwesen“ wir als „Metapher für sexuelle Ausschweifungen“ gedeutet. Der Bochumer Philosoph Gunter Scholtz verstieg sich sogar zur Aussage: „Lukas Cranach malte sie als verführerische, lüsterne Venus in rotem Gewande. Die Melancholie übt also selbst gleichsam Liebesreize aus – und ersetzt so die Liebe.“[9] Offenbar übersah er ihre Flügel, ihre züchtige Haltung und ihren ernsten und keineswegs lüsterenen Gesichtsausdruck. Doch warum erscheint die junge Frau in Engelsgestalt? Warum hat sie sogar nichts mit einer „Venus“ gemein, die verführerischen Liebeszauber praktiziert? Hierzu habe ich in der Literatur keine Antwort gefunden.
Die mediale Frau als Personifikation der Natura, die eine Botschaft an auserwählte Menschen überreicht, ist ein bekanntes Bildmotiv in der Kunstgeschichte. Auf einem kolorierten Holzschnitt von Hans Burgkmair, der einem Pergament-Exemplar der ersten Ausgabe des „Theuerdank“ (Augsburg 1517), einer fiktiven Geschichte der Brautfahrt Maximilian I., entnommen ist, sieht man Königin Ehrenreich auf dem Thron. (Abb. [vi]) Die zweite Ausgabe als Papier-Exemplar enthält einen identischen, aber nicht kolorierter Holzschnitt.[10] Die Königin als Braut (Maria von Burgund) überreicht Ehrenhold eine Botschaft an Theuerdank, den Bräutigam (Maximilian I.). Diese in Versen verfasste Erzählung im Auftrag oder gar aus der Feder von Maximilian I. schildert also die Fahrt des Ritters Theuerdank („Thewrdanck“) zu seiner Braut Fräulein Ehrenreich („Ernreich2). Ein Kommentar hierzu lautet: „Die Königin Ehrenreich, auf einem Throne sitzend, verkündet ihren Räten eine Botschaft, die von Ehrenhold überbracht werden soll. Neben Ehrenhold ein Engel.“[11] Bisher sei die „Weltenehre“ verteidigt worden, jetzt solle der christliche Glauben beschützt werden. In gewisser klerikaler Analogie zeigte Burgkmair auf dem Titelholzschnitt zu Johannes Stamlers „Dialogus“, wie die in der Höhe thronenende Himmelskönigin „Sancta Mater Ecclesia“, eine Ausgesaltung der Heiligen Jungfrau Maria, dem Papst und dem Kaiser, die vor ihr knien, die Insignien ihrer Macht – Schlüssel bzw. Schwert – überreicht. (Abb. [vii]) Über Maria mit Krone und Heiligenschein erhebt sich unter einem Baldachin das Kreuz. Unter ihr fließt aus einem „Brunnen der wahren Weisheit“ (pons vere sapiencie) Wasser auf das Haupt einer weithin verhüllten Person, wahrscheinlich der Sapientia, umgeben von einer Schar von Schülern. Wir haben hier die verschiedenen Frauengestalten vereint: Königin, Mutter, Maria, Sapientia und implizit auch Natura, die als Quelle der Weisheit zumindest angedeutet wird. Freilich geht es in diesem Traktat explizit um Religion und nicht um Naturforschung. Gleichwohl mag auch hier das Diktum des römischen Dichters Juvenal mitschwingen: „Numquam aliud natura, aliud sapientia dicit.“ (Niemals sagt die Natur eine Sache und die Weisheit eine andere.)
[1] Zit. n. Tilton, 2003, S. 310. [2] http://de.wikipedia.org/wiki/Melencolia_I (23.04.2012) [3] Zit. n. Jahnke, 1987, S. 59; Panowsky [1943], 1977, S. 216. [4] Jahnke, 1987, S. 61. [5] Klibansky, 1990, S. 456. [6] Jahnke, 1987, S. 62. [7] Klibansky et al., 1990, S. 494. [8] Zika, 2002. [9] Scholtz [Online-Artikel], S. 7. [10] Burgkmair 1973 [b], S. 15. [11] Füssel, 2003, S. 84.
[i] Tilton, 2003, S. 310: Abb. 20; → Abb. Maier Europa [ii] Maier, 1618[b]: Titelblatt; → Abb. Maier Viatorium [iii] Scholz (Hg.), 2000, S. 55; Anleitung […], 1790]: Frontispiz; → Abb. Frau und Zahlenmystik [iv] Jahnke, 1987; → Abb. Dürer Melencolia I [v]http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Lucas_Cranach_d._%C3%84._034.jpg&filetimestamp=20050519080725 (1.08.2012); → Abb. Cranach Melancholie [vi] Burgkmair 1973 [b], S. 15; http://dfg-viewer.de/show/?set[mets]=http%3A%2F%2Fdaten.digitale-sammlungen.de%2F~db%2Fmets%2Fbsb00013106_mets.xml (24.04.2012) → Abb. Theuerdank 113 BSB [vii] Burgkmair, 1973 [a]: Abb. 24; Stamler, 1508: Titelblatt; http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10140928_00002.html (14.04.2012); → Abb. Burgkmair Stamler 1508