37. Kap./2 * Missgebildete unter Verdacht [+ Audio]

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Neben der dämonologischen Erklärung der Monstren existierte bereits in der Renaissance eine Art psychosomatische Theorie. Das „Versehen“ der schwangeren Frau sollte angeblich dazu führen, dass auffällige Objekte ihrer Anschauung sich unmittelbar in der Gestalt des werdenden Kindes niederschlügen. Diese Einbildungskraft (imaginatio), die sich in der Gebärmutter am werden­den Kind angeblich materialisierte, bot gerade im Bereich der gerichtlichen Medizin eine Erklärung an, um beispielsweise die Mutter vom Ehe­bruch oder der Teufelsbuhlschaft freizusprechen. Paracelsus benutzte den Begriff der „imaginatio“, um angeborene Fehlbil­dungen zu erklären. In der Tat hat diese Auffassung in der Volkskunde eine lange Tradition. Die Begriffe „Hasenscharte“ oder „Wolfsrachen“ deuten darauf hin. Von praktischer Relevanz war die Überzeugung, dass mißgebildete oder verstümmelte Personen, welche die Schwangere erblickte, als Ursache für eine spätere Missgeburt anzusehen seien. Man könnte sagen: Das Stigma des Bösen erzeugte selbst wieder ein Stigma des Bösen, es schien ansteckend zu sein. Über Jahrhunderte hinweg wurde deshalb Schwangeren empfohlen, solchen Gestalten aus dem Wege zu gehen. So verbot im Jahre 1708 der Rat der Stadt Nürnberg das Auftreten missgebildeter oder verstümmelter Menschen – es handelte sich vor allem um „Aussätzige“ – auf den Märkten, um das Versehen zu verhüten, „der schwange­ren Frauen halber“.[1] Die Abwehr des Bösen bestand hier also darin, dass die Betreffenden aus dem öffentlichen Blickfeld verbannt wurden. Der Pädiater Erich Püschel hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das Versehen nicht nur eine Erklärung, sondern auch eine Entschuldigung gewesen sei: „Bei der Angabe der Mutter einer Mißgeburt, sie habe in der Schwangerschaft einen verstümmelten Bettler, einen kriegsversehrten Landsknecht oder ein mißgebildetes Tier gesehen, das genau der jetzigen Beschaffenheit ihres Kindes entspräche, handelt es sich immer wieder um das Bedürfnis des Menschen, die kausalen Zusammenhänge von der Familie (der eigenen oder der des Mannes) gewissermaßen nach außen zu verlagern.“[2]

Die rassenbiologisch begründete Ausmerze-Ideologie im Nationalsozialismus zeigte deutliche Spuren dieser ideengeschichtlich verankerten Stigmatisierung. In NS-Propagandafil­men zum Thema Erbkrankheiten wurden vor allem häßliche Missgestalten und extrem Verkrüppelte vorgeführt. Entsprechende ökonomische und erb­biologische Argumente sollten nahelegen, dass solche „Ballastexistenzen“ zum Verschwinden gebracht werden müssten. Dabei dürfte auch das Motiv eine Rolle gespielt haben, scheußliche und schreckliche Monstren aus dem öffentlichen Blickfeld zu verbannen, da sie möglicherweise das vitale Wohlbefinden der gesunden Volksgenossen belasten und negativ beeinflussen könnten. Der Feldzug der Nationalsozialisten gegen die „entartete Kunst“ war teilweise wohl ähnlich motiviert. Die Theorie des „Versehens“ löste keineswegs die Sündentheorie ab, sondern setzte sie vielmehr voraus: Die Sünde der anderen wurde zur Gefahr, sie bedrohte die Integrität der eigenen Nachkommen.

Wie bereits erwähnt, wurde Monstren und „Wechselbälgen“ die Seele abgesprochen. Sie erschienen als ein „Stück Fleisch“ (massa carnis), wie Martin Luther einmal sagte (siehe oben). Wurde den missgestalte­ten Menschen eine Seele zugesprochen, was in den weniger krassen Fällen sicher die Regel war, so schien die Seele dieser Menschen jedoch ebenfalls missgestaltet. Nach der Signaturenlehre und ihrem Grundsatz – das Äußere entspricht dem Inneren – wies körperliche Deformität auf eine unsicht­bare seelische Deformität hin. So schien der Bucklige mit einer üblen „Buckelseele“ behaftet. In einem 1826 erschienenen Büchlein „Buckeliana oder Hand-, Trost- und Hülfsbuch für Verwachsene beiderlei Geschlechts“ wurden negative Aussprüche über die „Buckelseele“ aus der Sicht eines Betroffenen zusam­mengetragen.[3] Der Autor, ein „Friedrich M….r“ aus Halle an der Saale gab sich selbst als Verwachsener im Vorwort zu erkennen: „Durch einen Fall vom Arme der Wärterin unter die Verwachsenen versetzt, war auch ich den gewöhnlichen Verhöhnungen, Neckereien und Zurücksetzungen Preis gegeben.“[4] Und er setzte unter Verwendung des Sinnbilds der Orthopädie (eines an einen Pfahl angebundenen krummen Baumes)[5] den frommen Wunsch hinzu: „Möchte es mir doch gelingen, gleich so manchem krummen Baume, auch Früchte zu tragen.“[6] Der Autor ging auf alle möglichen Dimensionen des Buckligen ein: Er erwähnte die betreffenden orthopädischen Anstalten und Therapiemethoden und referierte Vorurteile gegen Bucklige aus der Literatur als „humoristische Miszellen“. Unter anderem zitierte er Della Porta: „Alle verkrüppelte Menschen sind bös, und die schlimmsten unter ihnen die Buckligen“ sowie Duns Scotus: „Ein Buckel vorn auf der Brust zeigt einen zweideutigen und mehr einfältigen als gescheuten Menschen an.“[7]

Der Autor der „Buckeliana“ erstrebte so etwas wie eine soziale Rehabilitation der „Verwachsenen“ und verwies auf herausragende „merkwürdige Buckelige“. In die „Ehrenreihe ausgezeichneter und gezeichneter Menschen […] gehört auch Moses Mendelssohn zu Berlin, vornehmster jüdischer Philosoph, erster Denker seiner Nation, trefflicher Ästhetiker. Er war der Freund aller seiner gelehrten Zeitgenossen. So schön sein Geist war, so mißgestaltet sein Körper.“[8] Der „ausgezeichnetste Buecklige“ sei ohne Zweifel der griechische Fabeldichter Aesopus gewesen. Schließlich sollte die Predigt „des Hrn. Oberhofpredigers Dr. Reinhard am 23. Aug. 1801“ zum Trost dienen, die – vermutlich in einer Kirche in Halle – durch einen „Geschwindschreiber“ festgehalten wurde.[9] Das Jenseits sollte gewissermaßen für die Kränkung im Diesseits entschädigen: „Es wird eine Zeit kommen, wo ihr Alles nachholen, wo ihr euch frei und glücklich zu größerer Vollkommenheit empor schwingen werdet. Denn sich verwandeln, sich umbilden und zu einem bessern himmlischen Körper werden, soll diese zerbrechliche Hütte. […] Es soll gesäet werden in Schwachheit, und auferstehen in Herrlichkeit.“[10]

Der in der Weimarer Republik sehr bekannte „Krüppelpädagoge“ Hans Würtz sprach vom „Streben der Buckelkrüppel, durch Mehrleistungen ihr Minderwertigkeitsbewußtsein vom Körper zu kompensieren“.[11] Diese Auffassung entsprach der Theorie von Alfred Adlers Individualpsychologie, wonach eine „Organminderwertigkeit“ durch das „Min­derwertigkeitsgefühl“ und seine „Überkompensation“ („Minderwertigkeitskomplex“) den Kranken oder Behinderten zu Höchstleistungen anstachele.[12] In dieser Perspektive erschienen Krüppel besonders raffiniert, berechnend, hinterhältig, aber auch geistreich und sensibel zu sein. Natürlich lehnte die Rehabilitationspsychologie nach dem Zweiten Weltkrieg diese Minderwertigkeitstheorie ab, von einer für eine Behinderung spezifischen abnormen seelischen Haltung ist heute nicht mehr die Rede, wie dies in der ersten Jahrhunderthälfte der Fall war, obwohl auch hier bereits beachtliche Kritik an dieser Theorie laut wurde. So wies der katholische Geistliche und „Krüppelpädagoge“ Josef Briefs, ein namhafter Vertreter der katholischen Heilpädagogik in den 1920er und 1930er Jahren, das Adler’sche Erklärungsmodell zurück.[13] Die Lehre von der „Überkompensation“ der „Organminderwertigen“ unter dem Vorzeichen des „Willens zur Macht“ sei eine materialistische, mechanistische Weltanschauung – unvereinbar mit der katholischen. Das unüberwindliche Hindernis sei „die naturalistische Unterbauung des Systems“.[14] Für die Gebrechlichen kämen die Adler’schen Lehren „einem moralischen und gesellschaftlichen Todesurteil“ gleich.[15] Tatsächlich sprächen alle Erfahrungen dafür, dass eine bei den Gebrechlichen vorhandene Kompensationstendenz sich „meist im Rahmen des Normalen“ bewege und die „von Adler behauptete krankhafte, psychotische Tendenz der Ueberkompensation des Organdefekts“ nicht bestätigt werden könne.[16] Briefs wehrte sich gegen die „uneingeschränkte Verallgemeinerung“ der Adler’schen Lehre: „das Verhalten der großen Mehrheit der Durchschnittskrüppel ist die förmliche Widerlegung der Adler’schen Theorie.“[17] Die „nach Adler angeblich zwangsläufige Entwicklung“ könne durch pädagogische Maßnahmen vermieden werden.[18]

Der böse Giftzwerg, das kinderfressende Monstrum, der wütende Riese sind Figuren der Volkskunde, die äußerliche Missgestalt und innerliche Bosheit miteinander identifizieren. In dieser Perspektive erscheinen Behinderte nicht nur als Gezeichnete, als Opfer bösartiger Machenschaften, sondern selbst als Quellen geistiger Bösartigkeit. Diese Auffassung folgt der Denkfigur, wonach das entstellte Opfer Rache nehmen will an den normalen Menschen. In der schöngeistigen Literatur wurde diese Problematik eindrücklich dargestellt. Zu erinnern wäre hier an den querschnittsgelähmten Sir Clifford in dem Roman „Lady Chatterly“, der im Verlauf des Romangeschehens als immer boshafterer Krüppel beschrieben wird. Der englische Schrift­steller Louis Battye, der selbst an einer angeborenen neuromuskulären Erkrankung litt, sprach hier vom „Chatterly-Syndrome“, wonach Behinderten eine boshafte „Krüppelseele“ zugeschrieben werde.[19]

„Schaukrüppel“ und „Krüppel-Virtuosen“ wurden in der Neuzeit auf Jahrmärkten und im Zirkus zur Schau gestellt. Eigentümlicherweise war gerade im viktorianischen Zeitalter, der Epoche des Darwinismus, die Vorliebe für solche Kuriositäten und Abnormitäten besonders groß. Manche Missgebildete erschienen geradezu als das „missing link“ zwischen dem Tierreich und dem Menschen. Neugier, Sensationslust und biologistische Weltanschauung trieben erstaunliche Blüten. Der US-amerikanische Zirkusunternehmer Phineas Taylor Barnum war der Erfinder der „side show“. Sie spielte in einem eigenen Zirkuszelt. „Bamum nahm in sie nur jedes denk­bare ‚missing link’ auf: Meerjungfrauen, Löwenmenschen, die direkten Nachfahren der Azteken, Männer von einem wilden Stamm aus Borneo usw. Barnum verfügte über das Talent, den Geschmack und die mentalen Kapazitäten seines Publikums richtig einzuschätzen. Seine ‚missing links’ und seine ‚freaks’ (Schlangenmenschen, Hungerkünstler, Haar- und Bart­menschen, siamesische Zwillinge, Riesen und Zwerge usw.) zogen das damalige Publikum in Massen an.“[20] Der US-amerikanische Horrorfilm „Freaks“ des Regisseurs Tod Browning von 1932 stellte diese für die Missgestalteten erniedrigende Situation dar.[21] In einer dramatischen Filmhandlung wird die Bösartigkeit der „Normalen“ und „Schönen“ problematisiert, welche die freaks zu  solidarischer Gegenwehr und Rache herausfordern. Der deutsche Komponist Moritz Eggert schuf aus diesem Stoff die Oper „Freax“. Sie sollte 2007 an der Bonner Oper unter der Regie von Christoph Schlingensieff uraufgeführt werden, was aber daran scheiterte, dass sie mit mit dessen „Family“ von Kleinwüchsigen und Behinderten nicht realisierbar war  und deshalb konzertant aufgeführt wurde.[22]  


[1] Wahl, 1974, S. 47. [2] Zit. n. Wahl, 1974, S. 49. [3] Buckeliana, 1826. [4] Ebd., S. III. [5] Andry [1741], 1744. [6] Buckeliana, 1826, S. VI. [7] Zit. a. a. O., S. 68. [8] A. a. O., S. 87. [9] A. a. O., S. 111-136. [10] Ebd., S. 134. [11] A. a. O., S. 51. [12] Adler [1912], 1977. [13]http://www.100-jahre-dvfr.de/themen-und-personen/persoenlichkeiten/briefs/ (21.06.2011) [14] Briefs, 1936, S. 122. [15] A. a. O., S. 123. [16] A. a. O., S. 125. [17] A. a. O., S. 129. [18] A. a. O., S. 130. [19] H. Schott, 1974, S. 188 f. [20] Kunze / Nippert, 1986, S. 13. [21] http://de.wikipedia.org/wiki/Freaks (15.07.2012) [22] http://de.wikipedia.org /wiki/Freax_%28Oper%29 (25.01.2013)