14. Kap./1 * Natura naturans und Natura naturata

Wenn die Natur als eine göttliche Schöpfung angesehen wird, als ein Kunstwerk Gottes, dann hat sie selbst einen sekundären Charakter. Spinozas Unterscheidung von Natura naturans (schöpferische Natur) und Natura naturata (geschaffene Natur) weist in diese Richtung, wobei er die Natura naturans mit Gott identifizierte. Diese schaffende Natur ist Gott, eine Position, die ihm den Vorworf des gottlosen Pantheismus einbrachte. So identifizierte er in seinem posthum erschienenen Hauptwerk „Ethica“ die „unbeschränkte Natur“ (natura absoluta) mit Gott.[1] Die schaffende Natur drücke Gott aus, insofern er als freie Ursache betrachtet werde, während unter geschaffener Natur alles zu verstehen sei, „was aus der Nothwendigkeit der Natur Gottes oder eines jeden göttlichen Attributes erfolgt“.[2] Mit dem Begriffspaar Natura naturans und Natura naturata, ist also die Idee einer zweiten Natur formuliert, die auch bei früheren Autoren, wie etwa Johannes Scottus Eriugena im 9. Jahrhundert zu finden ist.[3] Indem nun der Mensch selbst zu einem Schöpfer erhoben wird, zu einem Künstler, der die Natur verwandelt und Neues schafft, übernimmt er die Schöpferrolle Gottes und wird gottgleich. In der Neuzeit wurde dieser Gedanke vor allem im Hinblick auf technologische Innovationen immer wieder bis heute zum Ausdruck gebracht. So prägte Sigmund Freud – wahrscheinlich beeinflusst von der populären „Organprojektionsthese“ von Ernst Kapp (siehe unten) – die Bezeichnung „Prothesengott“ für den modernen Menschen, der seine technischen „Hilfsorgane“ anlege, sich jedoch „in seine Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt.“[4]

Der Begriff der zweiten Natur hatte sich perspektivisch verkehrt: Während in der frühen Neuzeit, etwa bei Spinoza, unter zweiter Natur die von der Gottnatur (Natura naturans) geschaffene Natur (Natura naturata)  verstanden wurde, bedeutet sie in der Moderne die künstlich vom Menschen geschaffene Natur, die zunehmend die von Gott geschaffene Natur ersetzt oder zumindest den Anschein erweckt, dies zu vollbringen. In der Trias Gott – Natur – Mensch wird der Schöpfungsakt im ersteren Fall von Gott her, im letzteren vom Menschen her gedacht. Vor allem die Kunsttheorie spiegelt diesen Perspektivwechsel wider. Wurde traditionell die Nachahmung der Natur als Charakteristikum der Kunst angesehen, so gilt in der Neuzeit, insbesondere seit dem 18. Jahrhundert, zunehmend die Kunst per se als Schöpfungsakt und der Künstler „als Schöpfer einer eigenen Natur“.[5] Die Kunst wird somit zu einer Art Natura naturans stilisiert, was vor allem bei Schelling zu beobachten ist: „Schelling setzt Natur und Kunst in Parallele zueinander: die Kunst kann als Naturanalogon gedeutet werden, aber auch der Kosmos als Quasi-Kunstwerk.“[6]

Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies bedeuteten in der abendländischen Ideengeschichte eine Art Kernspaltung: Indem der Mensch zur Auseinandersetzung mit den Naturnotwendigkeiten gezwungen wurde, entwickelte er eine zweite Natur, wie der Münsteraner Sozialphilosoph Norbert Rath im Hinblick auf Pascal formulierte: „Das Gefallensein des Menschen ist die wesentliche anthropologische Bestimmung; er hat seine primäre Natur eingebüßt und dafür eine sekundäre korrumpierte eingetauscht.“[7] Eine Rückkehr ins Paradies war nicht mehr möglich. Mit der Entfaltung dieser zweiten Natur wurde zugleich die erste erkennbar: als paradiesischer Urzustand, der als Idealbild der Harmonie die disharmonische Realität des geplagten Kulturmenschen konterkarierte. Eine Kulturkritik, die sich auf reine „Naturformen“ berief, stellte letztlich eine Kontrastfolie dar, womit der heillose Zustand der Zivilisastion kritisiert werden sollte. Für Jean Jacques Rousseau, der die „Gleichsetzung von Gewohnheit und zweiter Natur erschütterte“, war der Mensch nicht aufgrund seiner Natur, sondern durch die Kultur verdorben.[8] Sein Anstoß bewirkte, dass in der Anthropologie um 1800 u. a. durch Herder, Kant und Schiller die Spaltung zwischen Natur- und Kulturbedingungen des Handelns und damit zwischen erster und zweiter Natur des Menschen thematisiert wurde.[9] Allerdings erschien nun die biblische Geschichte nicht mehr „als Sündenfallerzählung, sondern als Urgeschichte menschlicher Freiheit.“[10]

Wenn die Natur als Natura naturans, als schöpferische Macht, als ursprüngliche Künstlerin zu Werke geht, so kann ihr der Mensch mit all seiner Kunst nur folgen. Dies gilt insbesondere für die Heilkunst, die nach traditioneller Auffassung die Heilkraft der Natur, die Natura medicatrix, nur nachahmen, nicht ersetzen oder gar neu schaffen kann (Kap. 8). Wir möchten im Folgenden den Topos von der Nachahmung der Natur durch den Menschen etwas genauer  beleuchten. Der Darmstädter Philosoph Gernot Böhme setzte sich mit der „künstlichen Natur“ und insbesondere mit der Nachahmungsthese in der Geschichte der Philosophie auseinander, was auch für die Medizingeschichte erhellend ist.[11] So bezeichnete der schweizerische Aufklärungsphilosoph Johann Georg Sulzer die Natur als die primäre Künstlerin: „man kann sagen, daß alle Erfindungen der Künste, entweder aus dem Reiche der Natur wirklich hergenommen, oder in demselben wenigstens ungleich vollkommener anzutreffen sind. Die Natur ist die ursprüngliche Werkstätte aller Künste; eine unendliche Rüstkammer der künstlichen Maschinen, die alles, was die Menschen erfunden haben, weit übertreffen.“[12] Hier werde also Natur, so Böhme, „als die ursprüngliche Künstlerin, oder genauer, der ursprüngliche Künstleringenieur verstanden. […] Die Natur ist das Vorbild, von dem so etwas wie menschliche Kunst und Technik sich als Nachahmung herleiten.“ Diese These der Nachahmung stammte von Aristoteles, der in seinen „Physikvorlesungen“ geschrieben hatte: „Überhaupt vollendet die Technik teils das, was die Natur nicht erreicht, teils ahmt sie sie nach [mimesis].“[13] Die Nachahmungsthese beruhte also auf einem „teleologischen Verständnis der Natur“ und gipfelte in der Automatenkunst des 18. Jahrhunderts, welche die Werke der Natur mechanisch zu reproduzieren versuchte: „Die Automatenschwärmerei des 18. Jahrhunderts ist der deutlichste Ausdruck davon, Vaucansons Ente ihr bekanntestes Beispiel.“[14] Der französische Ingenieur Jacques de Vaucanson konstruierte 1738 eine mechanische Ente aus über 400 Einzelteilen, die sogar Körner „verdauen“ konnte.[15] Im selben Jahr verkündete er vor der französischen Akademie der Wissenschaften seinen Plan, einen funktionierenden künstlichen Menschen zu erschaffen.[16]

Die Idee der Nachahmung der Natur bezog sich aber nicht nur, wie im Falle von Tier- oder Menschenautomaten auf das technisch hergestellte Produkt, sondern auch auf die technische Produktionsweise selbst, auf deren Geräte und Instrumente. Dies zeigte sich gerade in der Epoche des wissenschaftlich-technischen Umbruchs in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. So entfaltete der Pädagoge und Geograph Ernst Kapp in seiner „Philosophie der Technik“ die einflussreiche „Organprojektionsthese“: Die technischen Apparaturen seien nur unbewusste Projektionen menschlicher Organe. So meinte er: „Die Nerven sind Kabeleinrichtungen des thierischen Körpers, die Telegraphenkabel sind Nerven der Menschheit! Und, fügen wir hinzu, sie müssen es sein, weil das charakteristische Merkmal der Organprojektion das unbewußte Vorsichgehen ist.“[17] Kapp zitierte Rudolf Virchow als Kronzeugen, der durch den Nachweis von Du Bois-Reymond, dass der Nervenstroms ein elektrischer sei, meinte, man könne daher „ohne Umstände sagen, dass die gesammte Einrichtung und Thätigkeit des menschlichen Bewegungsapparates mit der Anordnung und Wirkung der Telegraphen parallel gesetzt werden kann.“[18] Zwei in den Text eingefügte Abbildungen sollten diese Analogisierung illustrieren: ein „Tiefseekabel vom Jahre 1865“ (Abb. [i]) und die „Querschnittfläche eines Nerven. (Abb. [ii]) Ernst Kapp war übrigens ein Verfechter der Homöopathie und der Hydrotherapie. Als demokratisch gesinnter Liberaler emigrierte er 1849 in die USA und betrieb in Texas von 1851 bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland 1865 eine „Wasserkuranstalt“ (Dr. Ernest Kapp’s Water Cure).[19] Er engagierte sich im „Bund freier Männer“ und wurde Vorsitzender eines „Freien Vereins“, der soziale und politische Reformen, darunter die Abschaffung der Sklaverei forderte.[20]

Gernot Böhme hat auf Galilei anspielend darauf hingewiesen, dass es auch noch eine andere Traditionslinie gibt, nach der die Natur als das „gesetzlich Mögliche“ angesehen würde und nicht als vorgegebenes Raster der Nachahmung gelte. Als Beispiel zitierte er aus der Schrift des Cusanus “De mente“. Ein Idiota wehrt sich dort gegen die Nachahmungsthese: Der Kochlöffel habe „außerhalb der Vorstellung unseres Geistes keine Vorbild […] ich ahme nämlich in ihm nicht die Figur irgendeines natürlichen Dinges nach.“[21] Trotz aller künstlichen Umgestaltung seiner Umwelt sei, so Böhme, der Mensch „als Leib Natur, und deshalb muß sich alle Manipulation am Menschen an seiner Natürlichkeit orientieren.“[22] Auch wenn er „künstlich“ den Naturzustand erweitere, orientiere er sich an der gegebenen Natur.[23] Natur zu sein heiße für den Menschen, seine Leiblichkeit zu integrieren, „in sich selbst einen Grund zu respektieren, der nicht manipuliert und hergestellt werden kann.“[24] So würden sich zwei alternative Wege abzeichnen: Entweder strebe man eine „technische Entwicklung in Harmonie mit dem Naturzustand“ an − „Allianztechniken“ im Sinne Ernst Blochs – oder aber eine „Supertechnologie“, „durch den der Mensch endgültig seine eigene Existenz in Regie nimmt und den Naturzustand verläßt.“ [25] Die „Nachahmung der Natur“ ist seit der Antike eine Leitidee der Philosophie, die Hans Blumenberg als „Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen“ untersuchte.[26] Auch in der Geschichte der Heilkunde war diese Idee, vor allem im Zusammenhang mit dem Begriff der „Heilkraft der Natur“ (Kap. 8) zu allen Zeiten präsent, von Hippokrates bis Paracelsus, von Mesmer und Hufeland bis zur gegenwärtigen Naturheilkunde, die sie immer noch explizit in Schilde führt. Sie ist eng verbunden mit der naturphilosophischen „Weltanschauung“ und Anthropologie der jeweiligen Epoche und bildete das Motiv für alle möglichen Heilweisen.


[1] 1. Theil, 21. Hauptsatz; Spinoza, 1967, S. 123. [2] 1. Theil, 29. Hauptsatz, Erläuterung; a. a. O., S. 133. [3] http://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Scottus_Eriugena (28.10.2009). [4] Freud, 1930, S. 451. [5] Niehues-Pröpsting, 1996, S. 258. [6] N. Rath, 1994, S. 117. [7] N. Rath, 1996, S. 19. [8] Niehues-Pröbsting, 1996. [9] N. Rath, 1994, S. 48 f. [10] A. a. O., S. 65. [11] G. Böhme, 1992. [12] Zit. ebd., S. 226; Sulzer 1750, S. 38 f. [13] Aristoteles: Phys. B 8, 199a, 15 ff; zit. n. G. Böhme, 1992, S. 227. [14] G. Böhme, S. 228. [15] Büchel, 2005, S. 19 f. [16] http://de.wikipedia.org/wiki/Jacques_de_Vaucanson (20.10.2010). [17] Zit. n. G. Böhme, 1992, S. 229; Kapp, 1877, S. 141. [18] A. a. O., S. 142. [19] Sass, 1978, S. XXIII; XXXII f. [20] A. a. O., S. XXVIII-XXXII. [21] G. Böhme, 1992, S. 233; Blumenberg, 1957, S. 268. [22] G. Böhme, 1992, S. 236. [23] A. a. O., S. 237. [24] A. a. O., S. 240. [25] A. a. O., S. 242. [26] Blumenberg, 1957.


[i] Kapp, 1877, Fig. 26; → Abb. Kapp 1877 Tiefseekabel [ii] Kapp, 1877, Fig. 27; → Abb. Kapp 1877 Querschnitt eines Nerven