Corona und was die Seuchengeschichte lehrt. Essay (2020) — GERADE ERSCHIENEN!

Hervorgehoben

Am 18.10.2020 wurde mein Essay veröffentlicht.

Hier der Link zum Bestellen bei BoD – Books on Demand.

Eine Voransicht ist hier bei Google Books zu sehen.

Leider zeigten sich eine Reihe von angefragten Verlagen nicht an meinem Manuskript interessiert, näheres hierzu in diesem Blog-Beitrag.

„Magie der Natur“ — a translation into English is emerging (2021)

My book „Magie der Natur'“ [Magic of Nature] will be partially (fragmentarily) translated into English by Clare Mingins in form of a Blog:

History of Hypnosis and Healing.

Continuously, she will deliver a commentary with her own views complementing my text. That is respectively will be stimulating and instructive!

THE END — Ende meines BLOG-BUCHs „Magie der Natur“

PRINT EDITION AVAILABLE :      

IN TWO VOLUMES

AMAZON     

79,80 EURO

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Teilband 1: Buchumschlag Vorderseite

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Teilband 2: Buchumschlag Vorderseite

The printed book was published in October 2014 in German:

Magie der Natur. Historische Variationen über ein Motiv der Heilkunst.

Since that time all news about it are commuciated through these Blogs:

(1) Magic of Nature — Supplementary News

(2) Magic of Nature — book reviews

(3) Magic of Nature Follow Up

(4) Heaven or Hell: An Essay on Sexuality

(5) New publication in 2018: An outline of Magie der Natur in English, also published in form of a Blog: Magic of Nature — On the Mystery of Healing.

 

JUST PUBLISHED — Printed Book (April 2017)

Himmel oder Hölle: Ansichten zur menschlichen Sexualität

[i. e. Heaven or Hell:  Aspects of Human Sexuality]

Amazon 8,99 Euro

 

Epilog/2* Larven statt Götterbilder? [+ Audio]

Audio on youtube: http://youtu.be/3scpXzSSqRs

Novalis formulierte ein denkwürdiges Aperçu: „Sonderbar, daß das Innre der Menschen nur so dürftig betrachtet und so geistlos behandelt worden ist. Die sogenannte Psychologie gehört auch zu den Larven, welche die Stellen im Heiligthum eingenommen haben, wo ächte Götterbilder stehn sollten.“ [1] Diese Anmerkung ist hilfreich, um die allgemeine Abwehr gegen das Thema „Magie der Natur“ im gegenwärtigen Diskurs der Wissenschaften und insbesondere der naturwissenschaftlich fundierten Lebenswissenschaften besser zu begreifen. Die wichtigste traditionelle Abwehrformel gegen „Magie“ lautete: „Aberglauben“ oder superstitio, wie der lateinische Ausdruck heißt. Die modernere Version lautet „Suggestion“ oder – in etwas älterer Begrifflichkeit – „Einbildung“. Diese Termini sind, um mit Novalis zu sprechen, die „Larven“ der Psychologie. Sie erklären „Magie“ zu mehr oder weniger intelligenten und durchaus wirkungsvollen Hirngespinsten. Selbst der großartige Versuch von C. G. Jung, die Symbole der Alchemie als Archetypen des kollektiven Unbewussten und den alchemistischen Prozess als einen Weg der spirituellen Selbstfindung zu deuten, stellt eine Psychologisierung dar und ist letztlich eine psychologische Larvierung. Sind die Götterbilder aus dem Tempel – und ist damit auch die Bedeutung des Tempels selbst, falls dessen Bau noch erkennbar ist – verschwunden? Manches spricht dafür: „Naturdinge“ sind zur verfügbaren Masse für den globalen Markt geworden und die „Macht des Geistes“ erscheint als sozialpsychologische Rechengröße fürs marketing. Die von Nietzsche ins Spiel gebrachte Formel „Gott ist tot“ überdeckt die nicht minder bedeutsame, aber weniger gebrauchte Formel: „Natura ist tot“. Die verzweifelten Wiederbelebungsversuche auf Kirchentagen oder Klimagipfeln können nicht davon überzeugen, dass statt der „Larven“ tatsächlich „Götterbilder“ im Tempel aufgerichtet werden. Karl Marx benutzte den Begriff der Charaktermaske, um die Rolle des sich selbst entfremdeten Menschen im Kapitalismus zu charakterisieren. Die Larven, von denen Novalis sprach, entsprechen solchen „Charaktermasken“. Sie fixieren den Menschen und richten ihn für ein Schauspiel zu, dessen Regisseur er nicht kennt. Es gibt vielleicht keine stärkere Macht der Fixierung als die Wissenschaft, kein unerbittlicheres Glaubenssystem, das die Menschheit hervorgebracht hat. Ihre Unerbittlichkeit liegt darin, dass sie Gesetzlichkeiten vorgibt, die keine Ausnahme, kein Jenseits, kein ganz Anderes zulassen – und schon gar keine „Magie der Natur“, die mehr sein könnte als ein bloßes Vorspiel zur Entwicklung der rationalen Naturwissenschaft.

Insofern bekenne ich mich zu einer Naturphilosophie, die Gott und Natur – und somit auch den Menschen – nicht für tot erklärt, sondern möglicherweise für wieder entdeckbar, wieder erfahrbar – und wieder verehrbar. Eine solche Wiederbelebung bestünde nicht nur in einer ökologischen Renovierung der „natürlichen Ressourcen“ unserer Umwelt, sondern auch in einer seelische Erneuerung unserer Innenwelt, einer umfassenden reanimatio naturae – ein Terminus, den es nach Internet-Recherche erstaunlicherweise bislang noch nicht gibt.[2] Es mögen viele Wege dahin führen. Ein Weg ist die historische Vergegenwärtigung jener natürlichen Magie oder magia naturalis, deren Leitmotiv das Heilen-Können mithilfe göttlicher Weisheit war. In der Redeweise von Novalis wäre es die Aufgabe einer zukünftigen Medizin, „ächte Götterbilder“ anstelle von „Larven“ in ihren Tempeln der Wissenschaft aufzustellen. Wer aber vermag schon mit Sicherheit Götter- von Götzenbildern zu unterscheiden? Skepsis, Selbstkritik und Demut sind angebracht.                


[1] Novalis, 1805, S. 180. [2] Fehlanzeige bei Google-Suche (21.07.2012)

Epilog 1/* Dionysos und Apollon

Ein amerikanischer Freund erzählte mir, er habe zu Hause einen jungen Landsmann mit einem T-Shirt gesehen, auf dem zu lesen war: „Nietzsche is dead, God is alive“. Wir mussten beide herzlich lachen. Mythologie lebt gerade dort auf, wo sie für tot erklärt wird, wenn auch in verwandelter Gestalt. Nietzsche thematisierte in seiner berühmten Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (1872) die gegensätzliche Bedeutung der Götter Apollon und Dionysos für die Lebenswelt der Griechen, um die hellenophile Schwärmerei vom heiter-gelassenen Griechenvolk zu durchkreuzen – und schuf sich selbst seinen Dionysos-Mythos, mit dem er sich dem urwüchsigen Leben ohne Ressentiment und krank machende geistige Ranküne verschreiben wollte. Die menschliche Tragödie sollte überwunden, der „Übermensch“ erreicht werden. Wie die modernen Versuche beschaffen waren, den „neuen Menschen“ zu verwirklichen, ist im zweiten Hauptabschnitt unserer Studie dargestellt worden (Kap. 10). Im „Handbuch der Religionen“ von Eliade und Culioano erscheint Dionysos als wüster, zerstörerischer Kerl: Er stelle „den Fremden in uns selbst dar, eben die furchtbaren gesellschaftsfeindlichen Kräfte, welche durch jene göttliche Raserei entfesselt werden.“[1] So würden die Scharen seiner Mänaden, „besessener Frauen […] im Zustand der Hypnose“, durch die Berge streifen und wilde Tiere mit eigenen Händen zerstückeln. Kurzum: Die Lehre des Dionysos widerspreche „ganz und gar den sozialen Normen.“ Wir werden sehen, dass der Figur des Dionysos im medizinischen Kontext auch Positives abgewonnen werden kann.

Gerade das Motiv des Heilens wurde ursprünglich mit mythischen Stoffen illustriert, denken wir nur an die Heilkulte im Kontext der ägyptisch-griechischen Tradition. Dabei spiegelten sich medizinische Themen in mythologischen Stoffen wider. Sie wurden in vielfachen Brechungen und Anverwandlungen bis weit in die Neuzeit hinein von der Medizin aufgenommen und in jeweiligem Kontext zu bestimmten Erläuterungen herangezogen. Das beste Beispiel im 20. Jahrhundert lieferte Sigmund Freud, dessen Begründung der Psychoanalyse ohne mythologische Verankerung gar nicht denkbar gewesen wäre. Dass er selbst einen neuen Mythos geschaffen hatte, war ihm bewusst. So stellte er in der „Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ (1933) fest: „Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie. Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit.“[2] Die Konstruktionen der Psychoanalyse richteten sich nun nicht nur auf das Seelenleben des Einzelnen, sondern beanspruchten auch Gültigkeit und Erklärungskraft für künstlerische, literarische und nicht zuletzt mythologische Stoffe. Dass es dabei weniger um eine quellenkritische Analyse historischer Zeugnisse ging, als vielmehr um eine Demonstration psychoanalytischer Deutungskunst jenseits der unmittelbaren psychoanalytischen Zweierbeziehung, ist leicht ersichtlich, wenn wir etwa die Interpretation von „Dionysos und Apollon“, der von Friedrich Nietzsche angestoßenen Thematik, ins Auge fassen. Die 1969 veröffentlichte New Yorker „Sigmund-Freud-Vorlesung“ der grande dame der Psychoanalyse Helene Deutsch brachte den komplexen mythologischen Stoff unter dem Gesichtspunkt der Mutterbeziehung auf die Formel: „Dionysos – der Sohn, der die Mutter rettet – und Apollo – der Sohn, der sie tötet.“[3] Die Mythologie war ein wohlfeiles Mittel der Selbstinszenierung der Psychoanalyse. So meinte Deutsch, dass sich Freud seine Träume nach Unsterblichkeit erfüllt habe, allerdings nicht wie Dionysos, sondern „eher wie Herkules: durch Leistungen, die das Vermögen der meisten Sterblichen weit übersteigen.“[4]

Gegenüber Ödipus spielten Dionysos und Apollon in der Freud’schen Nutzung der Mythologie keine nennenswerte Rolle. Ob man Freud eine besondere Neigung zum Dionysoskult zusprechen kann, sei dahingestellt. Immerhin wurde die Asche Sigmund Freuds und seiner Frau nach deren letztem Willen einem antiken griechischen Weinmischgefäß mit Dionysos-Motiv anvertraut, was wiederum zu ausladenden Spekulationen einlud, wie beispielsweise folgender: „Nietzsches Rauschgott aus der Geburt der Tragödie besaß also doch noch, wie es scheint, ein uneingelöstes Anrecht auf ihn [Freud], daß Freud ihm offenbar nicht versagen wollte, allerdings erst im Tode, jenseits eines Lebens für die Psychoanalyse.“[5]

Anmerkung vom 28.03.2017:

Im Januar 2014 zerbrach die sehr wertvolle Urne mit der Asche von Sigmund und Martha Freud, als ein Dieb sie zu stehlen versuchte. Inwieweit die Asche aufgesammelt werden konnte, ist nicht bekannt.

Nun wollen wir aber nicht bei Freud und seiner mutmaßlichen Nähe oder Distanz zu Nietzsche stehen bleiben, was bis heute eifrig diskutiert wird.[6] Wir wollen stattdessen dem von Nietzsche hervorgehobenen Götterpaar Dionysos und Apollon ein kleines Stück weit in der Medizingeschichte nachspüren, in dem sich die Magie der Natur in einer bestimmten Polarität offenbart.

Dionysos, der hierzulande eher unter seiner römischen Bezeichnung als Bacchus bekannt ist, erscheint bis heute als Gott des Weines und des Rausches. „In vino veritas“ lautet eine aus der Antike stammende Spruchweisheit, die sich bereits bei dem römischen Gelehrten Plinius dem Älteren (1. Jh. n. Chr.) findet und deren diätetische Ergänzung „in aqua sanitas“ lautet. Medizinhistorisch waren vielleicht weniger die orgiastischen Bacchanalien als exzessive Kultfeiern zu Ehren des Dionysos von Bedeutung, als vielmehr die angenommene Heilwirkung des Weines, den man schon immer mit dem Lebensprinzip, dem Geistigen und Kraftspendenden identifizierte – bis hin zu zur metaphorischen Bedeutung des Weins im Kontext der christlichen Tradition (Messwein, Heiliger Geist, Blut Christi etc.). Es ist daran zu erinnern, dass die Verteufelung des Weintrinkens erst Ende des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Abstinenzbewegung unter der Anleitung namhafter Psychiater einsetzte und somit Dionysos im Zeitalter von (sozial-) darwinistischem und erbbiologischem Denken gewissermaßen aus dem Kulturleben ausgetrieben, in den pathogenen Bereich schädlicher Drogen verbannt und als „Keimgift“ im Sinne der Rassenhygiene diffamiert wurde. Hierzu passte die Einstellung der aufkommenden Naturheilbewegung, in deren Mittelpunkt die Hydrotherapie, die Anwendung von frischem, d. h. kaltem Wasser zur Abhärtung stand. Wasser- statt Weintrinken war nun angesagt.

Apollon, der Gott des Lichtes und der Weissagung, war in der klassischen Antike zugleich ein Heilgott – Vater des Asklepios, jenes Heilgottes par excellence, dessen Tempel im Imperium Romanum überaus verbreitet waren. Der Glanz des Sohnes überstrahlte im antiken Heilkult den des Vaters bei Weitem und sein Attribut, die Heilschlange, die sich um den Stab windet, gilt bis heute als Emblem des Berufsstands der Ärzte und Apotheker. Im Christentum übernahm die Figur des Christus medicus, des „Heilands“, manche Züge des Asklepios, nicht zuletzt die Abkunft von einer Gottheit, die als Quelle von Licht und Heilkraft imaginiert wurde. In einer ersten Annäherung könnten wir sagen, dass Apollon in der Medizin die göttliche, himmlische Kraftquelle symbolisierte, die wie die Sonne das Leben erhält, Krankheiten heilt und die Dunkelheit und damit das Böse vertreibt. Zugleich bedeutete dieser Gott eine höhere Vernunft, eine Weisheit, die das menschliche Auffassungsvermögen übersteigt. Die entsprechende Symbolik der frühneuzeitlichen Naturphilosophie, Alchemie und Theosophie wurde ausgiebig dargestellt (Kap. 29).

Wie steht es aber mit Dionysos? Hier hilft uns die medizinische Anthropologie der frühen Neuzeit und insbesondere die Naturphilosophie weiter. Das dionysische Prinzip wäre die irdische Natur, ihr Entstehen und Vergehen, der Lebenstrieb, der sich wollüstig auslebt und doch dem Tod geweiht ist. So meinte Paracelsus, dass im Menschen zwei unterschiedliche Reiche, nämlich Himmel und Erde, zusammentreffen würden: Er sei „viech“ und „engel“, „tödlich“ und „ewig“ in einem (Kap. 33) Wir könnten vielleicht in Abwandlung von Nietzsche und Freud sagen: Im Menschen begegnen sich Dionysos und Apollon und diese Begegnung macht seine Tragik aus, seine „Erbsünde“, seinen „Ödipus-Komplex“, sein unbewusstes Schuldgefühl, seine krankhafte Ängstlichkeit. Aufgrund seiner Leiblichkeit kann er nie ganz Apollon angehören und aufgrund seiner Geistigkeit nie ganz Dionysos. Er ist, wie er sich auch dreht und windet, durch diese innere Spaltung und Spannung belastet. Diese Hypothek abzuschütteln ist noch keinem Menschen – auch dem „Antichristen“ Nietzsche nicht – wirklich geglückt. Selbst Christus am Kreuz wurde von ihr belastet, wenn wir Simone Weils Diktum vom „unglücklichen Unschuldigen“ ernst nehmen (Kap. 43).

In der heutigen Bio- und Hightech-Medizin spielen natürlich Dionysos und Apollon keine Rolle mehr. Ihr Menschenbild kommt ohne den fundamentalen Widerspruch aus, den beide Gottheiten symbolisieren. Als „homo cerebralis“ wird der Mensch heute immer wieder mit seinem Gehirn gleichgesetzt und Medizin wie Öffentlichkeit meinen, durch Hirnforschung oder Neurowissenschaft den Menschen wissenschaftlich durchsichtig und vor allem berechenbar machen zu können. Neurowissenschaftler wollen den alten Traum vom Gedankenlesen verwirklichen und die „Sprache des Hirns“ entschlüsseln, eine verlockende Aussicht für die Werbepsychologie und Kriminalistik.[7] Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner hat die historischen Voraussetzungen dieser Sachlage eingehend durchleuchtet.[8] Die neuen Verfahren des Neuroimaging hätten zu einer Renaissance der Lokalisationslehre geführt; ob es freilich sinnvoll sei, „Emotionen, Altruismus, ästhetisches Verständnis oder Religiosität im Gehirn zu lokalisieren, ist eine heftig umstrittene Frage.“[9] Ähnlich problematisch ist der Anspruch der Molekularen Medizin, die durch molekulargenetische Verfahren eine prädiktive Diagnostik und eine euphemistisch so genannte „individualisierte“ oder „personalisierte Medizin“ anstrebt. Dionysos und Apollon erscheinen hier allenfalls noch als ein spätromantischer Einfall, der im Wissenschaftsbetrieb keinerlei Relevanz besitzt. Der Blick in die vormoderne medizinische Anthropologie zeigt freilich eine andere Situation. Gerade in der Gegenüberstellung von „Kopf“ und „Bauch“, cerebrum und hypochondrium, zwischen denen sich sympathetische, insbesondere auch pathogene Wechselwirkungen entfalten könnten, so eine gängige Auffassung von der Antike bis zum frühen 19. Jahrhundert, offenbare sich die psychosomatische Verfassung des Menschen. So meinte der berühmte Hallenser Arzt Johann Christian Reil zu Anfang des 19. Jahrhunderts, dass im Gehirn („Cerebralsystem“) das helle Tagesbewusstsein wie ein Monarch sitze, im Bauch („Gangliensystem“) dagegen ein Netzwerk von gleichberechtigten Nervenzentren, die das unbewusste Seelenleben ausmachten, die gleichberechtigt miteinander seien und sich unbotmäßig gegenüber der übergeordneten Zentrale im Gehirn verhalten könnten (Kap. 24). Dem Dionysischen, so könnten wir nun sagen, entspräche das autonome Nervensystem und seine unmittelbare Verknüpfung mit den Bauchorganen und ihren vegetativen Funktionen. Dem Apollinischen dagegen entspräche das intelligente und in sich leuchtende Bewusstsein im „Cerebralsystem“. Das Spannende wäre nun das wechselhafte und therapeutisch beeinflussbare Kräfteverhältnis zwischen beiden Instanzen. Durch den animalischen Magnetismus, so die Annahme vieler Ärzte im frühen 19. Jahrhundert, könne der „Nervengeist“ vom Kopf in den Bauch gelenkt und so der magnetische Schlaf einschließlich seiner somnambulen Visionen und Ekstasen erzeugt werden. Die entsprechende Technik, wie quasi Dionysos zu erwecken sei, wurde vielfach diskutiert. Es ging jedoch nicht um eine rauschhafte „Krise“ als solcher. Vielmehr war das Ziel, eine Läuterung im Sinne der katharsis herbeizuführen und damit (wieder) ein ungetrübtes Verhältnis zu Apollon zu ermöglichen.

Das Gegensatzpaar Dionysos und Apollon spielte jedoch explizit in der Medizingeschichte – auch nach Nietzsche – keine Rolle. Implizit aber war es, wie soeben kurz angedeutet, durchaus in der medizinischen Anthropologie vormoderner Konzepte enthalten. Inwiefern es als heuristische Denkfigur auch für die gegenwärtige Medizin von Bedeutung sein könnte, sei dahingestellt. Solange diese sich im Namen der Wissenschaftlichkeit von jeglicher Mythologie fernhalten will und dabei ihre eigene nicht reflektieren mag, dürfen wir keinen Brückenschlag zu den eigenen wissenschaftshistorischen Wurzeln erwarten. Dass ein solcher aber auch für die aktuelle Forschung anregend sein könnte, steht außer Frage. Vielleicht bietet die Kunst – abgesehen von der Literatur – in diesem Sinne mehr Überzeugungskraft von der „Wirklichkeit der Götter“ (Walter F. Otto) als rein historische Reflexionen. Eine Bonner Kunstausstellung 2011/12 mit Gemälden von Michael Franke legte dies nahe.[10]

Ergänzung vom 8.08.2014

Im gedruckten Buch wird sich folgende Passage mit dem Gemälde von Michael Franke anschließen (Teil 2, S. 522):

Michael Franke-page-001

Das Gemälde von Michael Franke (2010) in größerem Format:

Ohne Titel, Öl auf Leinwand 24×19 cm

(Foto: Heinz Schott, 2014)

Michael Franke bild


[1] Eliade / Culiano, 1995, S. 97. [2] Freud, 1933, S. 101. [3] Deutsch [1969], 1973, S. 11. [4] A. a. O., s. 36.  [5] Schlesier, 2002, S. 202. [6] Le Rider, 2002. [7] Illinger, 2010. [8] Hagner, 2008 [a]. [9] Hagner, 2008 [b], S. 18. [10] Franke, 2011.

# Epilog: „ … wo ächte Götterbilder stehn sollten“ [+ Audio]

Dieser Beitrag auch als Video bzw. Audio am Todestag meiner Mutter aufgenommen

Mutter der Äneaden, du Wonne der Menschen und Götter,

Lebensspendende Venus: du waltest im Sternengeflimmer

Über das fruchtbare Land und die schiffedurchwimmelte Meerflut,

Du befruchtest die Keime zu jedem beseelten Geschöpfe,

Daß es zum Lichte sich ringt und geboren der Sonne sich freuet.

Wenn du nahest, o Göttin, dann fliehen die Winde, vom Himmel

Flieht das Gewölk, dir breitet die liebliche Bildnerin Erde

Duftende Blumen zum Teppich, dir lächelt entgegen die Meerluft,

Und ein friedlicher Schimmer verbreitet sich über den Himmel.

[…]

Ohne dich dringt kein sterblich Geschöpf zu des Lichtes Gefilden,

Ohne dich kann nichts Frohes der Welt, nichts Liebes entstehen:

Drum sollst du mir auch Helferin sein beim Dichten der Verse,

Die ich zum Preis der Natur mich erkühne zu schreiben.

Lukrez: De rerum natura (55 v. Chr.)[1]

Sonderbar, daß das Innre der Menschen nur so dürftig betrachtet und so geistlos behandelt worden ist. Die sogenannte Psychologie gehört auch zu den Larven, welche die Stellen im Heiligthum eingenommen haben, wo ächte Götterbilder stehn sollten.

Novalis: Fragmente vermischten Inhalts (1799/1800)[2]

Die Magie bietet der Geschichtswissenschaft ein weitläufiges Arbeitsfeld. Die Übergänge zu Grenzgebieten wie Belletristik, Esoterik und Parapsychologie, um nur einige anzudeuten, sind fließend. Historische Romane, die sich mit Motiven der Magie befassen, verdanken ihre Attraktivität der unausrottbaren Sehnsucht nach dem Wunderbaren und der Aussicht, dieses durch eine gezielte Übung oder bestimmte Einstellung in Erfahrung bringen zu können. Der Begriff der Magie löst heute recht unterschiedliche Assoziationen aus, als da sind: harmloser Varieté-Zauber, wie er anlässlich von Kindergeburtstagen oder zum Abschluss von wissenschaftlichen Kongressen beliebt ist; gefährlicher Teufelskult, wie er in satanistischen Sekten gepflegt wird; gelehrte Anstrengungen im Bunde mit dem Bösen à la „Faust“, um die Naturkräfte dem Menschen dienstbar zu machen; parapsychologische oder paramedizinische Methoden, um außersinnliche Wahrnehmungen und telepathische Fernwirkungen zu erforschen bzw. therapeutisch anzuwenden. In jedem Fall stellt „Magie“ eine Gegenwelt dar, welche unseren Alltag übersteigt und vielfach als dessen „Jenseits“ erscheint. Heutige Zauberkünstler gaukeln wie viele ihrer Kollegen in früheren Zeiten diese Gegenwelt zur Belustigung des Publikums vor: Magie erscheint dann als technischer Trick. Satanskulte feiern ihre abartigen Rituale in passendem Ambiente mit exquisitem outfit: Magie als schwarz gefärbte performance, bei dem Spaß und Ernst nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Die schöngeistige Beschäftigung mit den Phänomenen der Magie in unterschiedlicher Ausprägung historisiert diese und rückt sie in eine ästhetisch annehmbare und ansprechende Distanz: Magie als kulturelles Erbe, das tiefe Erinnerungsspuren in unserem kollektiven Gedächtnis hinterlassen hat. Und schließlich befassen sich manche Wissenschaftler mit Grenzgebieten der Medizin und Psychologie, um magisch anmutende Phänomene wie etwa Telepathie oder Geistheilung wissenschaftlich aufzuklären: Magie als zu entzauberndes Objekt der Wissenschaft. Bleibt noch jene Gruppe von heutigen Magiern zu erwähnen, die als Heiler oder Hellseher auftreten und von wissenschaftlicher Seite zumeist als Scharlatane oder Betrüger aufgefasst werden: Magie als professionelles Betätigungsfeld, als Dienstleistung auf dem esoterischen Gesundheitsmarkt.

Ich kann mich selbstverständlich mit keiner der genannten Auffassungen identifizieren. Der Grund hierfür ist nicht, dass ich noch eine weitere Definition oder Auffassung von Magie anzubieten habe. Vielmehr stört mich die jeweilige Reduktion des Magie-Begriffs auf eine bestimmte Sichtweise, die andere ignoriert oder gar ausschließt. Ich vermute, dass nur die Offenheit gegenüber unterschiedlichen Interpretationen zu neuen („wissenschaftlichen“) Erkenntnissen führen kann. So plädiere ich für eine synchrone Achtsamkeit. Magisches spielte sich in der Vergangenheit ab – und ist zugleich auch in der Gegenwart anzutreffen. Zauberkunst ist Tricktechnik – und doch gibt es charismatische Menschen, die ohne in die Trickkiste zu greifen magisch Anmutendes zuwege bringen. Ist die heutige Geringschätzung der Magie als Hybris einer Welt anzusehen, die von ihrem eigenen wissenschaftlich-technischen Fortschritt so fasziniert, ja verhext ist, dass das Weiterdenken der in ihr lebenden Menschen blockiert wird? Und was heißt Weiterdenken, wenn nicht: in die Weite denken?


[1] Übersetzung von Hermann Diels (1924); http://www.textlog.de/lukrez-preis-venus.html (8.04.2011). [2] Novalis, 1805, S. 180.

49. Kap./9* „Mischung von Erotik und Mystik“ [+ Audio]

Zum Mithören mein Video/Audio auf Youtube

Auch bei der „sexuellen Revolution“ und der Studentenbewegung, die sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre entfalteten, spielte die Karezza-Idee keine nennenswerte Rolle. Die wenigen Publikationen waren in einem idealistisch-pädagogischen Tonfall verfasst und erreichten die Masse nicht, wenngleich einschlägige Schriften von Cesare A. Dorelli (zu dessen Biografie keine Informationen vorliegen, möglicherweise ein Pseudonym) zwischen 1955 und 1975 zahlreiche Auflagen erlebten. Er idealisierte die „Karezza-Liebe“ als „Himmel auf Erden“.[1] Denn „Karezzakraft ist Lebenselixier und Jungbrunnen in einem.“ Die kosmische Dimension wurde vom Autor in den Vordergrund gestellt. Es gehe um die Liebe, bei der die Liebenden „sich völlig dem anderen verschenken, indem sie sich selbst aufgeben, und ihm das Größte geben, das sie besitzen: Die vom Himmel stammende, geläuterte, schöpferische Kraft, die im Sexualorgan zentralisiert ist, aber durch Wunsch, Gefühl und Liebe gelöst und auf den ganzen Körper verteilt und auf den Liebespartner übertragen werden kann.“[2] Diese Ausbreitung der Karreza-Kraft auf den ganzen eigenen Körper und ihre Übertragung auf den des Liebespartners standen im Mittelpunkt der Technik. Ihr ging es um Aufsaugen, Umgestalten, Überströmen, um „eine Art Magnetismus, der von einem zum anderen überstrahlt.“ Freilich: „Die Gegenseitigkeit der Strahlungs-Aufnahme (also nicht nur der Überstrahlung) ist eine gebieterische Notwendigkeit.“[3] An anderer Stelle wird Karezza als „beiderseitiges, unbegrenztes Verströmen des Liebesodems“ bezeichnet, sodass die Liebe und Seligkeit mit jeder Karezza-Umarmung wachse.[4] Die betreffende Erbauungsschrift predigte die Erlösung vom irdischen Elend und das Erreichen geistigen Heils mittels dieser sexuellen Technik. Der Mensch solle zu einer anderen Persönlichkeit, der Liebespartner zu einem „kosmischen Partner“ werden.[5] Es gehe um „den Weg nach oben“, um die „Erhöhung“ des Menschen, „den Weg ins Paradies“.[6]

Neben den Publikationen von Dorelli erschien zu diesem Thema nur noch die kleine Schrift „Carezza“ einer gewissen Dr. med. Marie de Nannie, die in deutschen Bibliotheken Seltenheitswert hat.[7] Über die Biografie der Autorin ist nichts bekannt. Im Anschluss an die Erfahrungen der Oneida-Gemeinschaft und das Werk der US-amerikanischen Ärztin Alice Stockham plädierte sie für Karezza zur „Reinigung der Lebensgestaltung auf allen Gebieten der Natur.“[8] Liebe sei der „Gipfel der großen inneren Magie. Sie ist die letzte Heilkraft für alle seelischen Leiden.“[9] Durch die übliche Sexualität werde das Leben „sexuell ausgelaugt, geistig schal und leer“, unersetzliche Lebenskraft werde verschwendet.[10] Wie bei Dorelli soll „inniges Aneinanderschmiegen“ bei der Karezza-Liebe magnetische Kräfte auslösen, „die von dem einen zum andern überströmen und in einem anhaltenden, beseligenden Wohlgefühl die Höhen des menschlichen Daseins erreichen, den Himmel erahnen lassen.“[11] Somit wurde die „gegenseitige Stärkung in magisch belebender Kraft“ angestrebt.[12] Explizit bezog sich die Autorin auf Franz Anton Mesmer, welcher der Heilwirkung durch magnetische Berührung in Europa zum Durchbruch verholfen habe. Überhaupt erscheint der Mesmerismus hier als der wichtigste Bezugspunkt: „Wer Carezza [durchweg mit „C“ geschrieben] beherrscht, hat den Lebensmagnetismus in den Fingern, er strahlt ihm aus den Augen, schwingt in seinen Worten und überträgt seine Kraft oft sogar schon aus der Entfernung auf den geliebten Menschen.“[13] Die „magnetischen Kräfte“, die alle Körperorgane stärke, die „schenkend und empfangend“ beteiligt seien, werden in bunten Farben geschildert und in höchsten Tönen gelobt: „Im Austausch der magnetischen Kräfte fühlen sich die Liebenden ganz und gar eins, alles Trennende schwindet, der gleiche Blutstrom scheint in ihren Adern zu kreisen, Krankheit und Leiden werden durch die zielbewußten Wünsche des Gefährten gemildert, wunderbare Heilkräfte treten in Aktion.“[14] Diese würden auf der „Sublimierung der Begierden“ und auf „reiner Liebe“ aufbauen, niemals träten dabei „Übersättigung oder Monotonie“ ein, Karezza ermögliche eben „ein beliebig häufiges Beisammensein“.[15]

Als Ärztin wollte de Nannie vor allem die „primitive Einstellung zur Sexualität“ verändern, denn der Sexualtrieb sei entgegen der landläufigen Meinung durchaus beeinflussbar und besitze keine absolute Macht.[16] „Da aber der Geschlechtstrieb variabel ist, liegt es an uns, das Beste daraus zu machen und unser Liebesleben immer reicher auszugestalten, denn ‚jeder hat die Sexualität, die er verdient’.“[17] Sie kontrastierte die „trübe Trauer“ nach dem üblichen Koitus (gemäß dem Ausspruch des Aristoteles „post coitum omne animal triste est …“) mit der „frohen Beschwingtheit“ nach einer geglückten Karezza-Vereinigung.[18] Die gemeisterte Sexualverbindung in der „tiefsten Liebesverschmelzung“ führe im Gegensatz zum gewöhnlichen krampfartigen Vorgang der Begattung dazu, „die kosmische Intelligenz frei in uns strömen zu lassen.“[19] Die Autorin unterstrich noch einmal Stockhams These, dass bei richtiger Einstellung „ein solcher Verkehr ohne Samenerguß und ohne Krisis [Orgasmus]“ zu völliger Befriedigung führe.[20] Sie pries Karezza als „die große Kunst der Liebe“, die gerade auch von der Frau „Sanftmut und Geduld“ verlange. Ihre „zarte, magnetisch wirkende Berührung“ habe sowohl die Macht, „die stürmische Erregung zu dämpfen oder die beruhigten Fluten zu erneutem Strömen zu beleben.“[21] Freilich waren nicht die wunderbaren physiologischen Wirkungen das Hauptziel, sondern die Umwandlung der „in der Sexualzone aufgespeicherten Energien […] in schöpferische Gestaltungskräfte auf geistigem Gebiet.“[22] So strebte die Autorin nach der richtigen „Mischung von Erotik und Mystik“ unter der „Kontrolle der Geistseele“ und schwärmte in quasi theosophischer Manier von Wegen, „die aus der Finsternis der irdischen Bedrängnis in die Heimat des ewigen Lichtes führen.“

Ein Arzt und Psychoanalytiker ist schließlich noch zu erwähnen, der sich ausführlich mit Karezza auseinandersetzte und ihre wohltuende Wirkung mit einer erstaunlichen Theorie würdigte. So weit ich die Literatur überblicke, stellt er wahrscheinlich die einzige Ausnahme in seinem Berufszweig dar. Rudolf Urbantschitsch, ein Freud-Schüler, den wir bereits im Kontext der Onaniedebatte erwähnt haben (Kap. 44), war ab 1908 Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und musste dreißig Jahre später in die USA emigrieren. In seinem 1949 publizierten Buch „Sex Perfection and Marital Happiness“ ging er ausführlich auf Karezza und ähnliche Sexualpraktiken ein.[23] Er hatte es nach 45jähriger Praxis als „psychologischer Berater“ dem Richter Henry G. Jorgensen gewidmet, „Richter des Oberen Gerichtshofes im Bezirk Menterey, Californien“. Das fünfte Kapitel („Die sechs Gebote im Geschlechtsverkehr“), „der wichtigste Teil dieses Buches“, enthielt die „Quintessenz von einer mehr als dreißigjährigen Erfahrung.“[24] Man spürt die Überwindung, mit der der Autor hier eine Art confessio ablegt. Dreißig Jahre habe der Autor gezögert, seine Entdeckungen zu veröffentlichen, „weil er sie nicht wissenschaftlich beweisen konnte, trotzdem sie sich in der Praxis vollkommen bewährt hatten. Jetzt aber ist er entschlossen, seinen Lesern gewisse Erfahrungen bekanntzugeben, so unglaublich sie auch scheinen mögen.“

Gleich zu Anfang seiner Ausführungen betonte Urbantschitsch, dass seine technischen Ausdrücke „Elektrizität“, „Ausstrahlungen“ oder „bio-elektrische Potential-Differenz“ „eher vergleichsweise, denn wörtlich genommen werden [sollen].“ Denn die Theorie der Elektrizität sei, bezogen auf das Sexualleben, eben „noch nicht Allgemeingut der Wissenschaft geworden.“ Er ging von der Frage aus, warum ein Paar, das sich liebe, doch auseinandertreibe: „Warum wird die Frau frigid und reizbar und der Mann irritiert und nervös oder sogar impotent?“[25] Seine Antwort war schlicht und entsprach seinem naturalistisch-physiologischen Verständnis, das ihn zu erstaunlichen Schlussfolgerungen führen sollte: „Weil die Natur der Liebe und der Sexualität und die Gesetze, die ihre Äußerungen regieren, nicht verstanden worden sind.“ Urbantschitsch ging ausdrücklich von seiner eigenen Erfahrung aus, „daß zwischen den Körpern von Mann und Frau eine bio-elektrische Potenzialdifferenz herrscht, welche bei einem richtig geführten Sexualakt ausgeglichen werden kann, wonach sich beide Partner entspannt, glücklich und befriedigt fühlen.“ Um seine Auffassung zu belegen, führte er eine Reihe von „Tatsachen“ ins Feld. An erster Stelle schilderte er die „Erlebnisse eines orientalischen Ehepaars“, das er in seinem Tagebuch unter dem Datum des 6. Februar 1916 in Damaskus festgehalten hatte. Der Bericht stammte von einem gewissen Dr. A. B., einem ehemaligen Patienten seines „Cottage-Sanatoriums für Nerven- und Stoffwechselkranke“ im Wiener Gemeindebezirk Währing.

Einmal habe das Paar eine Stunde lang nackt auf einer Couch in einem verdunkelten Zimmer gelegen, „einander liebkosend, aber ohne die letzte Vereinigung zu vollziehen“. Als sie in völliger Dunkelheit aufstanden, sei die Frau plötzlich sichtbar gewesen: „Sie war von einem Schein grünlich-blauen, mystischen Lichts umgeben. Es war wie ein Heiligenschein, nur mit dem Unterschied, daß er nicht nur ihren Kopf, sondern ihren ganzen Körper umgab und nebelhaft dessen Umrisse zeigte.“ [26] Als er seine Hand nach ihr ausstreckte, sei eine elektrischer Funke von ihr auf ihn übergesprungen: „sichtbar, hörbar und schmerzhaft. Wir schraken beide zurück.“ Damit schien Reichenbachs „Od“-Lehre (Kap. 28) bestätigt, die Urbantschitsch zunächst nicht ernst genommen hatte. Eine bio-elektrische Spannung zwischen zwei menschlichen Wesen könne demnach, so unglaublich es scheine, groß genug werden, um sichtbare Funken zu erzeugen. Urbantschitsch war neugierig geworden und spekulierte über physiologische Erklärungen dieses Phänomens. Auf seinen Rat hin unternahmen die „Jungvermählten“ in den folgenden Wochen eine Reihe von Experimenten, „von denen sie mir dann mit allen Einzelheiten erzählten. Ihre Berichte bildeten die Grundlage für eine vollkommen neue Auffassung vom Mechanismus des Geschlechtsverkehrs.“[27]

Die Versuche ergaben Folgendes: Eine fünf Minuten dauernde „vollständige, sexuelle Vereinigung“ nach einer Stunde „in innigem körperlichen Kontakt“ führte trotz der Befriedigung durch den Orgasmus zum späteren Überspringen von Funken, ein Zeichen also, „daß […] die elektrische Spannung zwischen ihnen noch bestand.“ Aber auch nach einem 15 Minuten dauernden Geschlechtsakt einige Tage später waren „nachher Funken sichtbar.“ In einem weiteren Versuch gab es schließlich nach einer 27 Minuten dauernden sexuellen Vereinigung „zwischen den Liebenden keine Funkenübertragung mehr. Die 27-Minuten-Periode war der entscheidende Faktor.“ Dauerte der Sexualakt kürzer, vergrößerte sich der Abstand, den die Funken übersprangen, „ein Zeichen dafür, daß die Potentialdifferenz zwischen den Körpern der jungen Leute durch jeden kurzfristigen Geschlechtsakt vergrößert wurde.“[28] Dauerte er eine halbe Stunde oder länger, war er „von einer vollständigen Entspannung gefolgt und das Verlangen nach einer Wiederholung des Vorgangs erwachte nicht vor fünf oder sechs Tagen“. Ein einstündiger Akt, so habe sich ergeben, befriedigte das Paar für eine Woche, ein zweistündiger für zwei Wochen. „die gleich anhaltende Entspannung wurde auch bei längerem körperlichem Kontakt, ohne sexuelle Vereinigung, hervorgerufen.“[29]

Urbantschitsch fand diese Ergebnisse durch „Beobachtungen gewisser, sexueller Praktiken mancher Eingeborenenstämme“ bestätigt.[30] Er bezog sich auf die seinerzeit viel diskutierte Sexualmoral der „Eingeborenen auf den Trobriand-Inseln“, die vor allem durch den US-amerikanischen Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski thematisiert worden war. Dieser hatte 1929 sein epochemachendes Werk „Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien“ veröffentlicht und damit ein großes Echo bei Ethnologen, Sexualwissenschaftlern und Psychoanalytikern hervorgerufen. Der innige Hautkontakt der Mütter mit den Kleinkindern, das Geschlechtsleben der Mädchen auf Probe nach der Pubertät mit verschiedenen Partnern und die besondere Methode des Sexualakts belegten nach Urbantschitschs Auffassung die Wirkung der Bioelektrizität. „Wenn der Geschlechtsakt beginnt, liegen die Liebenden − bevor sie irgend eine Bewegung machen − wenigstens eine halbe Stunde, manchmal auch länger, innig vereint und ruhig da. Nach dem Höhepunkt der Vereinigung bleiben sie noch eine lange Zeit beieinander, bis − um in unserer Theorie zu bleiben − die zwischen ihnen bestandene elektrische Spannung vollkommen ausgeglichen ist.“[31] Auch in diesem Zusammenhang übernahm Urbantschitsch die Freud’sche Lehre von dem vaginalen Orgasmus der Frau als Norm (Kap. 44). Der Mann berühre niemals „die Clitoris seiner Gattin“, auch müsse sich die Frau solchen Gefühlen entsagen, die für das Kind charakteristisch seien: „Nach der Pubertät konzentrieren sich die Gefühle normalerweise in der Vagina.“ Offenbar gab es eine religiöse Motivation für dieses Sexualverhalten. Die Trobriander nahmen an, dass nach einer Stunde der Vereinigung die Seelen der Vorfahren diese segnen würden. Die vollkommene körperliche Entspannung und die bequeme Haltung waren hierfür erforderlich, auch das übliche Zusammenschlafen ohne Geschlechtsverkehr, „die beiden geöffneten Beinpaare ineinander verschlungen, wie zwei Zangen, auf eine Weise, dass die Sexualorgane in innigsten Kontakt kommen, doch ohne Eindringen in die Vagina.“[32] In der damals üblichen Idealisierung dieser Sexualmoral als Quelle allen Lebensglücks kam Urbantschitsch zum Schluss: „Die Ehen verlaufen harmonisch, Scheidungen sind unbekannt und Neurosen existieren nicht.“[33]

Als weiteren Beleg für seine „bioelektrische“ Lehre zog Urbantschitsch die „Karezza-Methode“ heran. Dabei unterliefen ihm einige Fehler. So meinte er, das Wort „Karezza“ (Liebkosen) bedeute „Aufgeben“, „Entsagen“. Man habe nur der „männlichen Ejakulation“ zu entsagen, sonst ändere sich an der sexuellen Vereinigung nichts. Dies war nicht ganz zutreffend, da ja auch von der Frau eine zügelnde Kontrolle verlangt wurde. Im Übrigen aber sah Urbantschitsch in dieser Sexualpraktik eine Bestätigung seiner Lehre, nämlich „daß während dieser besonderen Art der Umarmung ein noch viel vollkommenerer Ausgleich [als beim normalen Geschlechtsakt] der elektrischen Spannung zwischen den beiden Partnern eintritt und sie sich deshalb nachher so befriedigt und beglückt fühlen wie nie zuvor.“[34] Im Hinblick auf Platons Ausführungen über die Liebe im „Symposion“ meinte Urbantschitsch schließlich, dieser Philosoph hätte, wenn er in der Gegenwart lebte, sich „vorstellen müssen, daß in dem Austausch der Ausstrahlungen zwischen zwei Liebenden eine köstlichere und tiefere Befriedigung liegt, als in dem Sexualakt selber. Denn dieser Austausch ruft ein Gefühl des Entzückens hervor, das nicht nur zwei oder drei Stunden, sondern oft auch taglang anhält.“[35] Gleichwohl war der undogmatische Analytiker weit davon entfernt, eine neue sexuelle Heilslehre für alle in die Welt zu setzen. Die „Karezza-Methode“ erforderte in seinen Augen große charakterliche Stärke. Sie könne „nur wenigen, auserwählten Männern empfohlen werden“.

Die soeben vorgestellten Publikationen von Dorelli, de Nannie und Urbantschitsch waren in der Nachriegszeit singulär. Die „bioelektrische“ Rationalisierung von „orientalischen“ Sexualpraktiken und Karezza durch Letzteren sowie die biologieferne Anlehnung an Mesmerismus und Mystik der beiden Ersteren widersprachen dem Zeitgeist und dem sexualwissenschaftlichen Credo von der unterdrückten Sexualität und ihrer Pathogenität. Denn befriedigende Sexualität ohne manifesten Orgasmus im Sinne des „Höhepunkts“ schien ein Widerspruch in sich darzustellen und mögliche Verbindungen zwischen Sexualität und Mystik zu sehen schien gänzlich abwegig zu sein. Solche esoterisch anmutenden Überlegungen abseits des main stream erhielten zwar durch die Hippie-Bewegung und die New Age-Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Auftrieb. Ihre Impulse verebbten aber mehr oder weniger in der neuen Wellness-Kultur, die nicht zuletzt durch Massage-Techniken (sogenanntes „Tantra“) erotisch aufgeladen wurde. Auch gegenwärtige „Kuschelparties“ als erotische Gruppenereignisse gehören zu dieser neuen Wohlfühl- und Entspannungskultur, die man in Analogie zu „Neo-Nature“ (Kap. 13) und zu „Neosexualitäten“ (Kap. 34) als „Neo-Eroticism“ bezeichnen könnte. Die kosmischen Dimensionen der Liebe und ihr Aufspüren im (zwischen-) menschlichen Erleben, ein Generalthema in Kultur- und Wissenschaftsgeschichte von der antiken Mythologie bis hin zur neuzeitlichen magia naturalis, Alchemie und Theosophie werden zwar mitunter angesprochen, dann aber flugs an das Konsumangebot der Wellness-Industrie angepasst. Erotik wurde zu einer anscheinend verfügbaren und bezahlbaren Ware, in ihrer primitivsten Form in einem „Eros Center“ erhältlich.

Demgegenüber hat die sexuelle Enthaltsamkeit oder Keuschheit, die unterschiedlich definiert sein kann, heutzutage im Allgemeinen einen schlechten Ruf. Sie wird nämlich als pathogene Unterdrückung des natürlichen Sexualtriebs angesehen. Dies gilt insbesondere für radikale Methoden der Askese, wie sie in hinduistischer Tradition als „Brahmacharya“ praktiziert werden. In dieser Lebensweise soll der menschliche Körper und Geist auf dem Wege zur göttlichen Erleuchtung von allen sexuellen Bedürfnissen und Begehrlichkeiten gereinigt werden. Die leitende Vorstellung dabei ist, dass die individuelle Liebe, etwa die zwischen Mann und Frau, in einer universellen göttlichen Liebe aufgehen soll. Mahatma Gandhi war wohl der prominenteste Vertreter dieser Lebensweise im 20. Jahrhundert. Er hatte als Ehemann und Vater mehrerer Kinder bereits 1906 im Alter von 37 Jahren sein Brahmacharya-Gelübde abgelegt.[36] Er stellte einmal Frage: „Wenn der Mann seine Liebe nur auf eine Frau richtet und eine Frau die ihre nur auf einen Mann, was bleibt dann an Liebe für die ganze übrige Welt?“[37]

Anmerkung vom 19.08.2016:

Es gibt einen interessanten Briefwechsel zwischen Gandhi und Leo Tolstoi kurz vor dessen Tod 1910 zum Verhältnis von Liebe und Gewalt. Näheres siehe mein Supplementary News Blog.

Die Beschränkung auf die Überwindung der sinnlichen Begierde, die Reduktion von Brahamacharya auf den sexuellen Aspekt, lehnte Gandhi jedoch ab: „Brahmacharya meint die Beherrschung aller Sinnesorgane. Wer nur ein Organ zu kontrollieren versucht und allen anderen freie Bahn lässt, wird feststellen, dass seine Bemühungen vergeblich sind.“[38] Vor allem Nahrungsbeschränkungen und Fasten waren ihm wichtig. Allerdings könne, so Gandhi, ein Geist, „der wissentlich unrein gehalten wird, […] nicht durch Fasten gereinigt werden. […] Solange der Geist nicht Herr, sondern Sklave der Sinne ist, braucht der Körper immer reine, nichtstimulierende Nahrung und periodisches Fasten.“[39] Für Gandhi bedeutete umfassende Selbstbeherrschung eine Art Lebenselixier: „Bei einem wirklich selbstbeherrschten Menschen nehmen Kraft und innerer Friede von Tag zu Tag zu. Der allererste Schritt zur Selbstbeherrschung ist die Zügelung der Gedanken.“[40] Was Kritikern als Unterdrückung der natürlichen Triebe erscheint, bedeutet für einen solchen Asketen den Weg zur geistigen Freiheit, zur göttlichen unio mystica. Es kommt auf die Perspektive des Betrachters an, ob er dies als höchstes Liebesglück oder als pathologische Entartung, ja Perversion ansieht. Friedrich Nietzsche und mit ihm die westlich orientierte Kultur tendiert zur letzteren Einschätzung, wonach der „asketische Priester“, einer „lebensfeindliche[n] Spezies“ angehöre und „Leben gegen das Leben […] physiologisch […] einfach Unsinn“ sei, wie Nietzsches Verdikt in der „Genealogie der Moral“ (III/11 bzw. 8) lautet.

Es ist ein Unterschied, ob sich ein Mönch viele Jahre lang in einem Kloster geistigen Übungen unterzieht oder ob jemand an einem zweiwöchigen Meditationskurs teilnimmt, der ihm eine innere Wandlung als Kursziel verheißt. Es wäre schon viel gewonnen, wenn dieser Unterschied auch auf dem Gebiet des Sexuallebens respektiert würde. Im Grunde gilt das für jede Art von Lebenskunst, die nicht mit gieriger Kurzatmigkeit, sondern nur mit langem Atem gelingen kann. Vor allem gilt es für das Gebiet von Erotik und Sexualität, das man dem umfassenderen Begriff der Liebe zuordnen kann. Die Ideengeschichte der Heilkunst führt uns in historischen Variationen wie in einem Kaleidoskop vor Augen, dass wir gerade auf diesem weiten Feld das Geheimnis und die Kunst des Heilens zu lokalisieren und neu zu entdecken haben, auch wenn wir sie nicht mit der Methodik der Evidenz-basierten Medizin feststellen können.


[1] Dorelli, 1962, S. 141. [2] A. a. O., S. 140. [3] A. a. O., S. 144. [4] A. a. O., S. 146 f. [5] A. a. O., S. 151. [6] A. a. O., S. 155. [7] Nannie, 1964. [8] Ebd., S. 7. [9] A. a. O., S. 8. [10] A. a. O., S. 10. [11] A. a. O., S. 13. [12] A. a. O., S. 14. [13] A. a. O., S. 16. [14] A. a. O., S. 30. [15] A. a. O., S. 51 f. [16] A. a. O., S. 19. [17] A. a. O., S. 21. [18] A. a. O., S. 25. [19] A. a. O., S. 29. [20] A. a. O., S. 30. [21] A. a. O., S. 58. [22] A. a. O., S. 63 f. [23] Urbantschitsch [1949], 1951. [24] Ebd., S. 90. [25] A. a. O., S. 91. [26] A. a. O., S. 93. [27] A. a. O., S. 94. [28] A. a. O., S. 95. [29] A. a. O., S. 96. [30] A. a. O., S. 97. [31] A. a. O., S. 99. [32] A. a. O., S. 100. [33] A. a. O., S. 101. [34] A. a. O., S. 102. [35] A. a. O., S. 104. [36] Gandhi [1942], 2011, S. 338. [37] Gandhi [1932], 2011, S. 179. [38] A. a. O., S. 181. [39] Gandhi [1929], 2011, S. 360. [40] Gandhi [1927], 2011, S. 122.

49. Kap./8* „Magnetation“ durch Karezza [+ Audio]

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Der Arzt John William Lloyd, „an American individualist anarchist“, griff Stockhams Begriff der Karezza auf und erläuterte ihn seinen Lesern als praktikable Methode anhand detaillierter Ratschläge.[1] Sein Buch The Karezza Method or Magnetation“ erschien zunächst anonym und dann 1931 unter seinem Namen in den USA.[2] Werner Zimmermann, der Übersetzer von Stockhams „Ethik der Ehe“ (siehe oben), berichtete, wie er dazu kam, diese Schrift zu übersetzen, die dann 1930 unter dem deutschen Haupttitel „Karezza-Praxis“ erschien.[3] Als er 1929 wieder in New York weilte, überbrachte ihm ein Freund diese anonyme Schrift, dessen Verlag ebenfalls verschwiegen wurde.[4] Denn in den USA war die Verbreitung „unzüchtiger Schriften“ damals verboten. Wie Zimmermann weiter berichtete, sei es ihm gelungen, den Verfasser ausfindig zu machen. Er habe ihn „in seiner klause“ besucht und einen 72jährigen stillen Mann „voller pläne, voller unternehmungslust“, getroffen: „Silberweiß sind haar und bart […]. Friedevoll, in milder güte leuchten seine klarblauen augen, künden von einer innern, von der ewigkeitlichen welt der Wahrheit, der Schönheit und der Liebe.“[5] Während Stockham „in gütiger menschlichkeit und mütterlichkeit zartfühlend die umfassenden zusammenhänge“ dargelegt habe, gehe Lloyd „in wissenschaftlicher gründlichkeit auf die wesentlichsten einzelheiten ein.“

Anmerkung vom 22.05.2015:

William Lloyd ist heute weitgehend unbekannt. Immerhin wird er in Gesundheitsratgebern, die sich positiv mit „Karezza“ berassen, zitiert, wie etwa von Carmen Reiss (in „Orgasmus I“).

Ausdrücklich knüpfte Lloyd an Stockham und die Vorläufer der Karezza-Methode in der Oneida-Gemeinschaft an.[6] Noyes gebühre die „entdeckerehre“: Er habe „das licht von Karezza für breitere schichten“ entzündet.[7] Lloyd wies die Einwände zurück, dass Karezza gesundheitsschädigend sei. Er selbst habe über 40 Jahre auf diese Weise geliebt und sei durch Chavannes (siehe oben), „der mit seiner frau zwanzig jahre in solcher ehe gelebt hat“, damit bekannt gemacht worden.[8] Durch Studium der einschlägigen Literatur zur Oneida-Gemeinschaft und durch persönliche Bekanntschaft mit Mitgliedern derselben sei er zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen: „Ich habe noch von keiner einzigen frau gehört, die auch nur im geringsten eine einwendung gemacht hätte in dem sinne, Karezza sei deren gesundheit nicht zuträglich oder zeitige unerfreuliche nacherscheinungen.“ Er erwähnte auch die Untersuchung von 42 Frauen der Oneida-Gemeinschaft durch den Psychologen Havelock Ellis, die bestätigte, dass keine Frauenkrankheiten oder andere krankhaften Zustände aufgrund des Sexuallebens festzustellen waren. Ganz im Gegenteil: Für Lloyd war Karezza eine körperlich gesunde bzw. gesund machende und psychisch erleuchtende und beglückende Sexualpraktik. Freilich habe sich die Leidenschaft der Liebe unterzuordnen und deshalb sei klar, „daß bei solchem liebesfest der orgasmus ein störenfried ist, ein plumper zufall aus unbeholfenheit, der für einige zeit dem lusterleben ein ende setzt und daher höchst unerwünscht ist.“[9] Die „Geschlechtsliebe“ habe grundsätzlich „zwei Aufgaben“: „Karezza für die tiefere liebe, den akt mit orgasmus für körperliche befruchtung.“[10] Karezza erschien Lloyd als eine Kunst der Sublimierung: Der „Karezza-Künstler“ verwandle die „sexualleidenschaft“ in „verfeinerten, geistgetragenen, poetisch schönen und herzenssüßen liebesausdruck“, wodurch eine Überspannung der Geschlechtszone und eine plötzliche Entladung verhütet werde.[11] Die Seele nehme die „blinde sexualerregung an sich, zerteilt sie und erleuchtet das ganze wesen.“

Lloyds Lobeshymne auf Karezza ist kaum zu überbieten. Sie sei „lebensnahrung oder -kraft“, „lebenstrunk“, „lebensbrot“.[12] Durch Karezza strahle das ganze Wesen „und schwingt in romantischem liebesjubel, und ein starkes nachgefühl von gesundheit, reinheit und lebenskraft verklärt alles.“[13] Der Orgasmus, quasi „ein epileptischer krampf“, rufe eine „nachfolgende schwäche“ hervor, die „krankhafte und unschöne wirkungen“ wie Blässe, Verdauungsstörung und Reizbarkeit zeitige. „Je häufiger daher geschlechtsverkehr mit orgasmus, desto sicherer stirbt die liebe“.[14] Denn dieser bringe „entmagnetisierung, gleichgültigkeit, reizbarkeit, ekel“.[15] Immer wieder stellte Lloyd Karezza als „Liebes-Kunst“ dar. Der Mann solle sich als „elektrische batterie“ betrachten lernen und sich „in der kunst magnetischer berührung“ üben.[16] Das Männliche sei positiv-aktiv gegenüber dem Weiblichen eingestellt, wie umgekehrt das Weibliche negativ-passiv gegenüber dem Männlichen,was insbesondere für die Geschlechtsorgane gelte.[17] Allerdings ging Lloyd von der „Zweipoligkeit“ des Menschen, seiner Bisexualität, aus. Wir seien alle „als kinder göttlicher ahnen […] zwitter“: „bald überwiegt das eine, bald das andere, in ewig wechselndem spiel, teils unbewußt, teils von unserem willen lenkbar.“[18] Die „magnetation“ führe zu fühlbaren Strömungen zwischen den beiden Partnern. Der Mann solle seine Frau so berühren, „daß seine strömende lebenselektrizität sie in schauern des entzückens durchrieselt, während dies ihn von der innern spannung aufgestauter kraft befreit.“[19] Dieses Fließen und Austauschen von Energie führe schließlich zu „völligem ausgleich“ und „wohliger ruhe“.

Lloyds Anleihen beim Mesmerismus springen ins Auge und belegen wieder einmal, wie sehr dieses Konzept noch im frühen 20. Jahrhundert gerade in Amerika weiterwirkte: „Der liebeskünstler hat diesen lebensmagnetismus in seinen fingerspitzen, seinen handflächen, strahlt ihn aus den augen, läßt ihn durch seine stimme schwingen, kann ihn von jedem teil seines körpers auf den eines andern übertragen − ja, selbst durch seine aura, unsichtbar und ohne leiblichen kontakt.“ Lloyd umriss hier nur die bekannten Standardtechniken des Mesmerismus. Es fällt auf, dass in der Hochzeit des Mesmerismus im frühen 19. Jahrhundert eine direkte Anwendung des Magnetisierens im Sexualleben so gut wie nie zur Sprache kam. Rund hundert Jahre später hatte sich das geändert. Die Sexualität und vor allem ihre Perversionen und Pathologien waren nun in Wissenschaft, Kunst und Alltagsleben zu einem großen Thema geworden.

Lloyd pries die „Karezza-vereinigung“ als einen stetigen „jungbrunnen alles lebens“.[20] Die Kraftquelle erklärte er physiologisch: Die Zurückhaltung des Samens spende dem Organismus Energie und Lebenskraft. Gelegentlich genüge schon ein einziger Samenerguss, „den mann seiner magnetischen kräfte zu berauben.“[21] Er suchte nach einer wissenschaftlichen Begründung und kombinierte dabei endokrinologische mit vitalistischen Vorstellungen. Das endokrine Drüsensystem erzeuge „lebenskraft“.[22] Diese stecke im Samen. Wenn er wieder aufgesogen werde, stärke das die Lebenskraft. Dagegen sei der Orgasmus eine „gewaltsame entladung aufgestauter nervenkraft“ und führe zu krampfartigen Symptomen, etwa zur Hysterie „als ersatz für sexuelle orgasmen“. Ein Überschuss an „sexueller nervenkraft“ müsse aber gar nicht ausgeworfen werden, wie die „ärzte der orgasmus-richtung“ behaupteten, da er nach ihrer Meinung die Gesundheit angreife.[23] Lloyd propagierte nun gegenüber den bekannten drei Arten des Geschlechtsakts (coitus completus, coitus interruptus und coitus reservatus) eine vierte Art: den „coitus sublimatus“ als den „höhergewandelten geschlechtsakt“.[24] Dieser Karezza-Akt bringe  „restlose zerteilung aller blutüberfüllung, entladung aller überschüsse an nervenkraft, befreiung von aller spannung und umfassende befriedigung.“ Er rege die „tätigkeit der innern zeugungsdrüsen“ an und stärke sexuelle „schwächlinge“, so dass sie „zu männern“ würden. Aber auch dem Mann mit „normaler geschlechtlicher stärke“ biete er volle Befriedigung. Während der übliche Orgasmus alle Kräfte „abwärts“ leite und an die Geschlechtsorgane binde, weise der „geschlechtliche magnetismus“ bei Karezza „aufwärts“ und führe „zu einem romantischen, poetischen, vergeistigten abschluß“.[25]

Anmerkung vom 27.11.2014:

Der Begriff „Koitus sublimatus“ taucht äußerst selten auf. Nach meiner Recherche im Internet kann man nur wenige voneinander unabhängige Quellen ausfindig machen. Die wichtigste ist Margriet de Moors Roman „Der Virtuose“.

Näheres in meinem Supplementary News Blog:

Anmerkung zu 49. Kap./8* („Magnetation“ durch Karezza) — „Koitus sublimatus“ in einem Roman

Lloyds vehemente Kritik an der „orgasmus-schule“ war für einen Arzt im frühen 20. Jahrhundert äußerst ungewöhnlich, denn sie widersprach den vorherrschenden Grundannahmen der Medizin und Sexualwissenschaft. Die Methoden der „orgasmus-schule“ seien so, „daß sie eine stauung schaffen, die nur durch einen orgasmus beseitigt werden kann.“[26] Dies sei für „den armen, den schwachen mann“ gefährlich. „Karezza dagegen baut ihn und seine kräfte auf, während sie dem sexualstarken eine verwendung seiner schöpferischen energien auf höherer ebene ermöglicht.“ Lloyd beendete sein Plädoyer für Karezza mit einer „Zusammenfassung der Vorteile“.[27] Zum einen unterstrich er die sexualhygienischen Vorteile: Verhinderung unerwünschter Schwangerschaften und Verzicht auf lästige und schädliche Verhütungsmethoden. Zum anderen hob er die physiologischen und spirituellen Vorteile hervor: Jeder Körperteil werde „magnetisiert und belebt und dadurch verschönt“, das Geschlechtliche werde „geläutert, erlöst“: „Der friede, der aufstrahlt, ist so süß, die erfüllung so umfassend, und oft halten körperliches hochgefühl und geistige frische für viele tage an, wie wenn die beiden äterische [sic] anregung, nahrung empfangen hätten.“

Im Unterschied zur Situation in den USA fällt auf, dass sexualreformerische Ansätze wie Stockhams Karezza oder Lloyds Magnetation in Deutschland außerhalb kleiner Zirkel der Lebensreformbewegung kaum rezipiert und von den Pionieren der Sexualwissenschaft ebenso wie von den politischen Akteuren der Sexualreform ausgeklammert wurden. Diese lehnten die sexualreformerischen Methoden als unpraktikabel oder gar gesundheitsschädigend ab, häufig ohne ihren Ansatz überhaupt verstanden zu haben. Erstaunlicherweise konnte auch die „Sexualmagie“ neueren Datums mit „Karezza“ nicht viel anfangen. So definierte der  US-amerikanische Okkultist Donald Michael Kraig, Verfasser zahlreicher esoterischer Schriften, Karezza in einem „Course Glossary“ folgendermaßen: „Karezza: A male technique for delaying orgasm, it is said to have beneficial effects to both members of a loving couple“[28] Die falsche Definition springt ins Auge. Zum einen ging es Stockham nicht um eine „Verzögerung“ des Orgasmus, zum anderen betraf die „Technik“ beide Geschlechter gleichermaßen. Im Übrigen nahm Kraig Wilhelm Reichs Orgasmus-Lehre ambivalent auf. Einerseits bewertete er den unkontrollierten Orgasmus eines potenten Menschen (orgasmically potent) positiv: „because going into such a state is exactly what true meditation is!“[29] Andererseits kritisierte er diesen angeblich einzigen Weg „to release Orgone energy“, da die Tantriker durchaus Methoden wüssten, diese Energie willentlich zu kontrollieren.[30] Im fundamentalen Unterschied zu Karezza, wo von beiden Partnern eine Verstetigung und Verbreitung des Orgasmus ohne Höhepunkt angestrebt wurde, ging es in Kraigs Darstellung nur um ein Hinauszögern des Orgasmus beim Mann, während die Frau ihn mehrfach haben konnte.   


[1] http://en.wikipedia.org/wiki/John_William_Lloyd (7.05.2012). [2] Lloyd, 1931. [3] Lloyd, 1930. [4] Ebd., S. 8 [Vorwort des Herausgebers]. [5] A. a. O., S. 9 [Vorwort des Herausgebers]. [6] A. a. O., S. 13. [7] A. a. O., S. 14. [8] A. a. O., S. 19. [9] A. a. O., S. 22. [10] A. a. O., S. 42. [11] A. a. O., S. 23. [12] A. a. O., S. 24 f. [13] A. a. O., S. 26. [14] A. a. O., S. 27. [15] A. a. O., S. 28. [16] A. a. O., S. 33. [17] A. a. O., S. 32. [18] A. a. O., S. 45. [19] A. a. O., S. 35. [20] A. a. O., S. 54. [21] A. a. O., S. 58. [22] A. a. O., S. 126. [23] A. a. O., S. 130. [24] A. a. O., S. 131. [25] A. a. O., S. 132. [26] A. a. O., S. 137. [27] A. a. O., S. 139-141. [28] Kraig, 1988. S. 523-540. [29] A. a. O., S. 427. [30] A. a. O., S. 428.

49. Kap./7* Karezza für die Sexualreform [+ Audio Podcast]


Magic of Nature Lecture 40 K 7:

I read the (German) text below, here is the Audio Podcast.

This chapter (49/7) is the source for a Paper in English, given at the Annual Meeting of the History of Science Society (HSS) in Chicago, November 9, 2014:

„Mesmerism, Sexuality, and Medicine: ‘Karezza’ and the sexual reform movement“

Wie wir bei der Darstellung der Sexualwissenschaft und Sexualmedizin festgestellt haben, spielte der Begriff „Karezza“ dort praktisch keine Rolle und fehlte fast gänzlich in den entsprechenden Standardwerken (Kap. 47). Dasselbe trifft auf die populärwissenschaftliche und graue Literatur sowie auf gegenwärtige Internet-Quellen zu, wo „Karezza“ gegenüber dem Stichwort „Tantra“ bei entsprechender Suche nur eine winzige Trefferquote aufweist. Der Begriff wurde in Anlehnung an das italienische Wort carezza“ (Liebkosung) von der US-amerikanischen Frauenärztin, Lebensreformerin und Frauenrechtlerin Alice Bunker Stockham geprägt, die sich der Ehe- und Sexualreform verschrieben hatte. Sie war die fünfte Frau, die in den USA einen medizinischen Doktorgrad erwarb. Sie betrieb in Chicago eine ärztliche Praxis, wobei sie sich für Frauenheilkunde und Geburtshilfe spezialisierte. Sie war karitativ tätig, interessierte sich stark für spirituelle Fragen, praktizierte Homöopathie, engagierte sich beim Kampf gegen den Alkoholismus, diente angeblich als Trancemedium und war eine aktive Frauenrechtlerin (suffragette).[1] 1883 veröffentlichte sie ein Aufklärungsbuch über die Gesundheit der Frau: „Tokology. A Book for Every Woman“, das hohe Auflagen und Übersetzungen in mehrere Sprachen erlebte und zu einem Standardwerk wurde. Tolstoi, zu dem Stockham freundschaftliche Kontakte pflegte, war so begeistert, dass er eine Übersetzung ins Russische veranlasste und ein Vorwort verfasste.[2]

Anmerkung vom 18.02.2015:

Stockham besuchte Tolstoi in Russland und beschrieb ihre Begegnung mit ihm und seinem familiären Umfeld in ihrer Schrift: „Tolstoi, a Man of Peace“ (1900).

Siehe Supplementary News Blog.

Anmerkung vom 27.12.2016:

Was verband Stockham und Tolstoi? Zunächst die schonungslose Analyse des sexuellen Elends in ihrer Zeit, sodann die Idee einer spirituellen Befreiung daraus. Aufschlussreich ist „Die Kreutzersonate“ von Tolstoi.

Näheres siehe Supplementary News Blog.

Stockham war eine Anhängerin des New Thought Movement und nahm 1886 am ersten Christian Science-Kurs von Emma Hopkins in Chicago teil. Überhaupt waren viele namhafte Frauen in dieser Bewegung aktiv, wobei sich zwei Lager voneinander unterscheiden lassen. Die einen strebten eine Abkehr vom sexuellen Begehren an, während die anderen, zu den Stockham zählte, gerade diesem Begehren einen würdigen Ausdruck verschaffen wollten.[3]

1896 veröffentlichte sie im Selbstverlag ein Büchlein mit dem Titel „Karezza. Ethics of Marriage“.[4]

Anmerkung vom 29.04.2017:

Demnächst erscheint bei BoD — Books on Demand die zweite Auflage dieses Buchs (Chicago 1903) mit einen Epilogue von mir. Das Cover kann hier bereits angesehen werden.

Eine deutsche Übersetzung erschien bereits im folgenden Jahr. Wie der Übersetzer in seiner „Vorbemerkung“ hervorhob, gehöre die Autorin zu den „durch ihre Wissenschaft legitimirten seelsorgenden Leibärzten der Menschheit“.[5]Ein gewisser „Dr. Hartung, pract. Arzt in Hermsdorf u. Kynast, Schlesien“, ein Anhänger der biochemisch fundierten Ernährungslehre von Julius Hensel, lobte in seinem Vorwort die „einfachen, jeder Mystik baren Heilprinzipien und Ernährungstheorien“, ohne auf Stockhams philanthropischen, naturphilosophischen und religiösen Ansichten einzugehen.[6] Der bekannte schweizerische Lebensreformer und Naturist Werner Zimmermann übersetzte das Buch fast 30 Jahre später noch einmal mit der in der Jugendbewegung verbreiteten Kleinschreibung ins Deutsche, an der ich mich im Folgenden orientiere.[7]

Anmerkung vom 18.08.2016

Mehr zu diesem Buch und seinen Illustrationen von A. Paul Weber siehe mein Supplementary Blog.

Für Stockham lagen zwischen der gewöhnlichen Begattung und der Karezza-Vereinigung Welten, wie sich aus der Gegenüberstellung der beiden folgenden Zitate aus ihrem Buch ersehen lässt: „Der gewöhnliche hastige und krampfartige vorgang einer begattung, auf die man sich nicht längere zeit vorbereitet hat und wobei die frau die passive rolle spielt, ist ebenso unbefriedigend für den mann wie für die frau. Er ist schädlich für den körper wie für den geist. Er enthält in sich keine folgerichtigkeit als eine äußerung der zuneigung und ist häufig eine ursache der entfremdung und trennung.“[8] Im Kontrast dazu erscheint die Karezza-Vereinigung als befriedigend, gesund erhaltend und als Himmel auf Erden: „Während einer längeren zeit völliger beherrschung sind beide wesenheiten völlig ineinander getaucht und erleben eine unvergleichliche erhöhung in den geist. Das mag begleitet sein durch eine ruhige bewegung, die ganz unter der botmäßigkeit des willens stehen muß, so daß bei keinem der beiden der schauer der leidenschaft die grenzen eines angenehmen gefühlsaustausches überfluten kann. […] Bei gegenseitiger übereinstimmung und genügender zeitlicher ausdehnung führt ein solcher verkehr ohne samenerguß und ohne krisis zu völliger befriedigung. Im verlaufe einer stunde klingt die körperliche spannung aus, die geistige verzückung wächst und führt nicht selten zum schauen höherer welten und zum bewußten erleben neuer kräfte.“[9]

Anmerkung vom 18.08.2016:

Matthias Wendt hat in einem Kommentar zum Karezza-Buch von Stockham eine interessante Umschreibung für die Technik gefunden, siehe mein Supplementary News Blog.

Während die Ärztin Stockham als Ehe- und Sexualreformerin anerkannt war und weit über esoterische Zirkel hinaus auch international Beachtung fand, wurde die theosophische Mystikerin Ida Craddock, deren emanzipatorische Aktivitäten eine ähnliche Zielrichtung wie die von Stockham hatten und auf deren Karezza-Begriff sie sich explizit bezog, Opfer reformfeindlicher Kräfte und ihrer Justiz. Während Stockham als Philanthropin sozialmedizinisch argumentierte, wollte Craddock als theosophisch Erleuchtete die alltägliche sexuelle Gewalt des Mannes in der Ehe bekämpfen. Dabei erlebte sie offenbar die „Himmlische Hochzeit“ recht handfest (Kap. 45).

Auf den kategorialen Unterschied zwischen der „gewöhnlichen Begattung“ und der „Karezza-Vereinigung“ wiesen alle Autoren hin, die für Karezza als Methode des Geschlechtslebens plädierten. So heißt es in einem Buch des mir unbekannten Autors Cesare A. Dorelli (siehe auch unten) mit dem Titel „Karezza-Liebe“, dass bei Karezza-Liebenden eine „nie gekannte Glückseligkeit“ den ganzen Körper „überrauschen“ würde, nicht nur die erogenen Zonen: „Diese Seligkeit ist grundverschieden von der animalischen, triebgebundenen, mit der Ejakulation verknüpften Begattung.“ Die unwillkürliche Vollendung des Geschlechtsakts werde dann sogar als störend empfunden, als „liebesfremd“.[10] Karezza wolle nicht Abtötung, sondern Steigerung der erotischen Kräfte, die „gleichsam von ihrem Entstehungs- und Kristallisationsort gelöst werden, damit sie überall nach unserem Wunsch und nach unserer Vornahme zur Verfügung stehen.“[11] Es gehe hierbei um die „seelische Ejakulation“ anstelle des Orgasmus. Die „Sexual-Urkraft“ soll auf den ganzen eigenen Körper und den des Liebespartners überstrahlen, die Ejakulation werde „umgewandelt als seelische Flut, als Beglückung, die fühlbar den ganzen Körper des oder der Geliebten befruchtet, überflutet, beseligt, verjüngt, stählt, verschönt, für alle Schönheit der Welt und alles Glück der Erden aufschließt und bereitet.“ Schließlich steht die Utopie vom Neuen Menschen im Raum: Karezza solle aus Menschen „Götterkinder“ machen.[12]

Doch zurück zu Stockhams Originalschrift. Die Autorin verband in ihrer Argumentation einen vitalistischen mit einem spirituellen Grundsatz: Die „schöpferische Kraft“ oder „Energie“ kann und soll geistig beherrscht und gelenkt werden. Der Mensch könne frei und bewusst einen der beiden Pfade wählen, „den des geistes oder den der materie“.[13] Freilich seien Religion und Philosophie „erforderlich, um leidenschaft zu heiligen.“[14] Der Schlüsselsatz lautet: „Auf keinem andern gebiete kann beherrschung den menschen reicher belohnen als in der meisterung und heiligung der sexuellen energie.“ Durch „liebe, übung und selbstbeherrschung“ könnten auch Verheiratete durch „vereinigung ihrer beiden seelen“ diese „schöpferische energie“ bedeutend steigern.[15] Sie könne auch als Heilkraft eingesetzt und absichtlich geleitet werden, um „einen freund von kummer und schmerzen zu befreien.“[16] „Karezza“ bedeutet, so Stockham, „zuneigung in worten wie in taten ausdrücken“. Sie verstand den Begriff „als technischen ausdruck im sinne einer gemeisterten sexualverbindung.“[17]

Stockham beschrieb diese Liebestechnik ziemlich genau und grenzte sie von anderen ab, die man mit Karezza verwechseln könnte. Sie selbst hatte in ihrem Buch „Tokology“ irrtümlicherweise, wie sie schrieb, von „’Sedular Absorption’ (innere aufsaugung des samens)“, gesprochen.[18] Freilich sei bei Karezza kein Samen aufzusaugen, da ja „unter der herrschaft des willens der vorgang kurz vor der letzten stufe der samenausscheidung aufhört.“[19] Auch kritisierte sie den Ausdruck „’Male Continence’  (männliche mäßigung)“, da es bei Karezza ja ebenso auch um „weibliche mäßigung“ gehe. Für sie war Karezza „sinnbild einer vollkommenen vereinigung zweier seelen in der ehe, […] offenbarungen von kraft und stärke.“ Insofern handele es sich eher um eine „geistige als eine körperliche verbindung“. Karezza soll zum „geistigen wachstum“ beitragen und führe nicht „zu askese und unterdrückung, sondern zu verwendung und ausdruck.“[20] Stockham argumentierte wie alle zeitgenössischen Lebensreformer und Rassenbiologen ebenfalls naturalistisch und berief sich in Anlehnung an den englischen Evolutionstheoretiker Herbert Spencer auf die „wesensgesetze“, die zu befolgen Lust spende und die zu ignorieren Leiden verursache.[21] Sie betonte immer wieder, dass Karezza tatsächlich möglich sei und zitierte zum Beleg im Anhang des Buches aus Hunderten von Zuschriften einige „bestätigungen“.[22] Dass körperliche Begierden zu allen Zeiten dem Geiste untergeordnet werden könnten, sei eine „frage der erziehung, des wachstums in der erkenntnis der lebensgesetze − einer erkenntnis der macht des geistes“.[23]

Ohne im Einzelnen auf die seinerzeit wohlbekannten Techniken der Hypnose und Suggestion einzugehen, folgte Stockham deren Grundsätzen. Eine „selbstbbestimmende geistige tätigkeit“ könne unwillkürliche physiologische Körpervorgänge beeinflussen, überhaupt könnten alle physiologischen Funktionen und Lebensvorgänge durch bewusste Verstandestätigkeit beeinflusst werden.[24] Stockham kritisierte die Lehrmeinung, wonach diese automatisch funktionierten und starr festgelegt seien. Sie wusste um die Einbildungskraft, die man später dem „Placebo-Effekt“ zugeschrieben hat: „Der gedanke an ein reiz- oder arzneimittel hat eine ähnliche wirkung wie das mittel selber, wenn auch in geringerem Grade.“[25] Ihr ging es um „den höchsten sieg des willens über die sexualität“ und die „verwendung der schöpfungskraft“ zu erhabeneren Zwecken. Die Aufsaugung des männlichen Samens duch den Organismus sollte die „magnetischen, seelischen und geistigen kräfte des mannes stärken.“[26] Sie zog die Analogie zwischen Hoden und Tränendrüsen: „Ein mann kann vollkommen gesund sein, obschon er in fünf oder fünfzig jahren nicht ein einziges mal weint.“ Damit widersprach sie dem traditionellen Dogma, wonach die Aufstauung der Samenflüssigkeit schädlich sei (Kap. 47).

Karezza war in den Augen von Stockham ein Allheilmittel, dessen therapeutischer Wert „von keinem heilmittel der apothekerkunst und von keinem heilsystem“ erreicht werde. Sie besang das Ideal ehelicher Gattenliebe, eine „vereinigung in vollkommener freiheit und natürlichkeit.“[27] Letztlich ging es auch in ihrer Sexuallehre um die Erfüllung von Naturgesetzen, die „erfüllung des gesetzes“. Nicht Unterdrückung des Geschlechtstriebs, sondern Sexualität als Bestätigung der tiefen Verbindung des Menschen „mit dem weltganzen“, lautete ihr Motto. Karezza fördere „das wachstum an geist und charakter“ und ehre, verfeinere, verherrliche zugleich die Sexualfunktion.[28] Stockham war als praktizierende Ärztin in Fragen zu Ehe und Sexualität offenbar eine begehrte Ratgeberin. Die im Anhang ihres Buches abgedruckten Korrespondenzen belegen, dass sie zahlreiche Menschen dazu motiviert hat, die Karezza-Technik praktisch auszuüben. Stockham bezog sich auf eine Reihe von anderen Autoren, die um 1900 in den USA publizierten und von denen sie sich bestätigt sah. Offenbar war in diesem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ der Boden für Karezza günstig, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil dieses Konzept naturphilosophische, eugenische und religiöse Motive in sich vereinigte. So publizierte Stockham die bereits 1890 anonym erschienene Erzählung „The Strike of a Sex“ von George Noyes Miller, einem ehemaligen Mitglied der Oneida Community, aus der sie ausführlich zitierte.[29] Darüber hinaus verwies sie auch auf andere Vorkämpfer der Sexualreform wie Henry Wood (Kap. 17), Warren F. Evans und Ursula N. Gestefeld.

Millers Erzählfigur Immanuel Zugassent entdeckt die körperliche und geistige Wohltat durch die bewusste Kontrolle der Sexualfunktion. Der Autor stellte „Zugassent’s Discovery“ auf dieselbe Stufe wie die naturwissenschaftlich-technischen Neuerungen seiner Zeit, etwa Dampfmaschine, Elektrizität und Telefon.[30] Ja, sie stelle, so Miller, in ihrem Vermögen, die Summe des menschlichen Elends zu verringern, sogar die Entdeckungen eines Jenner, Harvey, Pasteur oder Koch in den Schatten.[31] Millers quasi religiöses Plädoyer für die geistige Disziplinierung des animalischen Triebs hatte vor allem das soziale Elend durch eine fehlende Geburtenregelung vor Augen. Zugleich stützte sich Miller auf die Praxis des Mesmerismus und Hypnotismus, deren Konzepte er, wie dies weithin in der Popularmedizin jener Zeit üblich war, nicht voneinander unterschied. Insofern hatte er eine sozialpolitische und sozialmedizinische Zielsetzung, die mit Stockhams Ansatz übereinstimmte. Wenn Zugassent meint, dass alle Erfahrungen „the power of the will over the involuntary processes of the body“ zeigten, so erinnert dies an James Braids zentrale Formel: „the power of the mind over the body“ (Kap. 17). Miller argumentierte im Sinne der Naturheilkunde und der Ehereform mit ihrem Ziel der bewussten Familienplanung. Die Verschleuderung von Lebens- und Nervenkraft durch sexuelle Unbeherrschtheit könnte eines Tages ebenso absurd erscheinen wie der allgemein praktizierte Aderlass in der Vergangenheit.[32] Anstelle einer solch abwegigen Gewohnheit solle der unschuldige magnetische Austausch (innocent magnetic exchange) zwischen den Ehepartnern treten, der auch als sexual magnetism bezeichnet wurde und zur höchsten spirituellen Entwicklung sowie zu „welfare and happiness of others“ führe und deshalb am Göttlichen teilhabe.[33] Die sexuelle Selbstkontrolle wird mit dem Verhalten eines Bootsmanns auf einem Strom verglichen, der zuerst stilles Wasser, danach Stromschnellen und schließlich einen Wasserfall aufweist. Es hängt nun vom Geschick des Bootsmanns ab, wie weit er sich in die Nähe des Wasserfalls vorwagt, ohne die Kontrolle zu verlieren und von diesem in die Tiefe gerissen zu werden – „confining his excursions to the region of easy rowing“.[34]

Anmerkung vom 22.05.2015:

Alice B. Stockham ist heute auch in Kreisen der Frauenbewegung weitgehend unbekkannt. Selbst dort, wo die Karezza-Methode explizit positiv gewürdigt wird, ist die nennung ihres Namens keineswegs selbstverständlich. Ein Beispiel ist die Schrift von Carmen Reiss „Orgasmus I“, siehe meinen Supplementary Blog.

 

Anmerkung vom 2.02.2018:

Kürzlich stieß ich auf Paul Chanson, einen katholischen Sexualwissenschaftler aus Paris, dessen „méthode Chanson“ der Karezza-Methode nahe kommt. Eine seiner Publikationen (L’Accord Charnel, 1950) habe ich gescannt (PDF) und zum Herunterladen vereitgestellt, siehe mein Blog SCHOTT’s PRIVATE LIBRARY.


[1] http://www.reuniting.info/wisdom/stockham_karezza (14.12.2010). [2] Sattler, 1999, S. 136. [3] Sattler, 1999: Graphik. [4] Stockham, 1896. [5] Stockham [1896], 1897, S. VII. [6] A. a. O., S. IX-XI. [7] Stockham [1896/1925], 1998. [8] Ebd., S. 18. [9] A. a. O., S. 20. [10] Dorelli, 1961, S. 115. [11] A. a. O., S. 116. [12] A. a. O., S. 117. [13] Stockham, 1927, S. 10. [14] A. a. O., S. 15. [15] A. a. O., S. 16. [16] A. a. O., S. 17. [17] A. a. O., S. 18. [18] A. a. O., S. 20. [19] A. a. O., S. 21. [20] A. a. O., S. 22. [21] A. a. O., S. 23. [22] A. a. O., S. 77-102. [23] A. a. O., S. 24. [24] A. a. O., S. 25. [25] A. a. O., S. 26. [26] A. a. O., S. 31. [27] A. a. O., S. 57. [28] A. a. O., S. 58. [29] A. a. O., S. 90-94; Miller, 1905. [30] Miller, 1905, S. 109. [31] A. a. O., S. 103. [32] A. a. O., S. 111. [33] A. a. O., S. 118. [34] A. a. O., S. 113.