5. Kap./3 * Naturalisierung des Menschen

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte die naturwissenschaftliche Medizin ihre vorherrschende Stellung in Wissenschaft und Gesundheitswesen erreicht. Bakteriologie und Hygiene, Zellularpathologie und experimentelle Medizin bildeten die wissenschaftlichen Grundlagen der modernen Medizin, die sich im Zeitalter des Darwinismus entfaltete. Der gesunde und kranke Mensch erschienen nun als naturwissenschaftlich zu untersuchende Objekte der medizinischen Disziplinen. Die „Naturalisierung“ des Menschen wurde mit aller Konsequenz vollzogen.[1] Analog hierzu scheint sich in der Ära der molekularen Medizin seit Ende des 20. Jahrhunderts eine „zweite Naturalisierung“ anzubahnen, die mit den Möglichkeiten der Genomanalyse einhergeht. Der Bioinformatiker Jens Reich spricht hier von einem „weiteren Naturalisierungsschub“: Bio- und gentechonolgische Methoden hätten eine „Datenlawine unvorstellbaren Umfangs an zell- und molekularbiologischer Information“ produziert.[2] Dadurch gehe der sinnliche Bezug, der bei der „ersten Naturalisierung“ noch vorhanden gewesen sei, „restlos verloren“.[3] Es komme zu einer „Entsinnlichung“ und zugleich Entfremdnung: Das „molkularbiologische Ich [wird] unendlich fremd zu meinem empirischen Ich sein, als das ich mir selbst bewußt werde.“ So führt nach Jens Reich das zweite Naturalisierungsprojekt unweigerlich wieder zu einem „prinzipiell erneuerten metaphysischen Dualismus“. Der leidende Mensch werde neben seinen „komplett naturalisierten Schatten“ treten und so werde man lernen, „daß der Mensch einerseits eine unverwechselbar individuelle Maschine, andererseuts eine unverwechselbare Person […] ist.“

Die Lebenswissenschaften reduzieren den Menschen zunehmend auf seinen genetischen Code, der immer stärker als valider Schlüssel für Diagnostik und Therapie angesehen wird und haben damit ihren homo geneticus kreiert (Kap. 3). Was bedeutet hier Naturalisierung? Der Begriff ist irreführend, denn er suggeriert eine besondere Hinwendung zur „Natur“. Das Gegenteil ist der Fall: Vielmehr handelt es sich um eine Naturvergessenheit, eine systematische Ausblendung der Natur, eine radikale und zugleich äußerst raffinierte Reduktion der Naturvorgänge auf eine bestimmte Verrechnung molekulargenetischer Informationen. Dies ist nur möglich durch eine strikte Ausgrenzung wissenschaftshistorischer und –theoretischer Fragestellungen, bei denen „Natur“ nicht nur als technologisch verrechenbare Größe, sondern als eigenständig-widerständige Macht, ja sogar als selbständiger Organismus erscheint, dem gegenüber und in dem menschliches Leben einen unsicheren Ort einnimmt.

Die Naturalisierung unter dem Vorzeichen von Naturwissenschaft und Biologie im 19. Jahrhundert vollzog sich im politökonomischen Kontext des aufkommenden Nationalismus und Imperialismus in Europa. Die Fortschritte von Wissenschaft und Technik und insbesondere die neuen Erkenntnisse und technologischen Fertigkeiten der Medizin waren wichtige Faktoren im politischen und wirtschaftlichen Kampf der Nationalstaaten, um ihren jeweiligen Einfluss- und Herrschaftsbereich auszudehnen und Märkte zu erobern, nicht zuletzt im Hinblick auf die Kolonialgebiete. Hieraus erklärt sich die enorme allgemeinpolitische Bedeutung von Bakteriologie und Hygiene. Die Naturalisierung unter dem Vorzeichen der molekularen Genetik gut ein Jahrhundert später vollzieht sich anscheinend unter analogen Rahmenbedingungen. Auch im Zeitalter der so genannten „Globalisierung“ geht es um den politischen und wirtschaftlichen Kampf auf dem Weltmarkt, auch hierbei spielen Medizintechnologie und Pharmazeutische Industrie eine wichtige Rolle. Unter dem Schlagwort des „Wettbewerbs“ wird die Gesundheitsindustrie als ein entscheidender Faktor für den eigenen Wohlstand und die Durchsetzungskraft des eigenen politischen Systems, das hierzulande zunehmend mit „Europa“ identifiziert wird, angesehen. Obwohl diese politökonomischen Rahmenbedingungen in der vorliegenden Studie nicht weiter untersucht werden können, sollen sie jedoch nicht in Vergessenheit geraten und dort, wo es angezeigt ist, immer wieder angesprochen werden.

Der eindrucksvolle Siegeszug der naturwissenschaftlichen Medizin gegen Ende des 19. Jahrhunderts – verkörpert u. a. von dem französischen Chemiker Louis Pasteur und dem deutschen Physiker Robert Röntgen – schlug sich nicht nur in neuen Forschungsergebnissen und medizinischen Techniken nieder, sondern zeigte sich auch in eindrucksvollen Instituts- und Klinikbauten, neuen kurrikularen Strukturen und einer zunehmenden Machtposition der Ärzte im staatlichen Gesundheitswesen. Die experimentelle Medizin mit ihrer Forschung im Labor prägte die Einstellung der Ärzte gegenüber ihren Patienten in jener Zeit. Die Klinik selbst erschien vielen als ein imaginäres Labor, in dem durch systematische Versuche die Medizin als Wissenschaft vorangetrieben werden sollte. Es ist kein Zufall, dass in diesem Kontext der Begriff des Versuchskaninchens geprägt wurde. Als einer von wenigen Medizinern beklagte der Berliner Nervenarzt und Sexualwissenschaftler Albert Moll in seiner „Ärztlichen Ethik“ (1902), dass immer wieder „Mediziner, von einer Art Forschungsmanie besessen“, sich über Recht und Sittlichkeit hinwegsetzten: „Die Grenze zwischen Mensch und Tier ist für sie verwischt. Der unglückliche Kranke, der sich ihnen zur Behandlung anvertraut hat, wird von ihnen schmählich betrogen, das Vertrauen getäuscht, und der Mensch wird zum Versuchskaninchen degradiert.“ [4]

Gerade „arme Leute in Krankenhäusern“ – so der Titel einer 1900 anonym von dem deutschen Historiker und Pazifisten Ludwig Quidde herausgegebenen Broschüre – fielen forschungsaktiven Ärzten zum Opfer.[5] Quidde war zwischen 1894 und 1900 Herausgeber der demokratischen Tageszeitung „Münchner Freie Presse“, in der zwischen 1898 und 1900 die sozialkritische Artikelserie „Arme Leute in Krankenhäusern“ erschienen war, die u. a. auch den „Fall Neißer“ mehrfach behandelte. Der Zynismus der damaligen Menschenexperimente gipfelte in der gelegentlichen Einschätzung, dass Menschen die billigeren Versuchskaninchen oder -kälber seien. So habe ein gewisser Dr. Janson in einem Vortrag 1891 über seine Versuche, „schwarzes Blatterngift einzuimpfen“, berichtet: „Vielleicht hätte ich zuerst an Tieren Versuche anstellen sollen, die geeignetsten jedoch, nämlich Kälber, waren der Kosten wegen schwer zu beschaffen und zu unterhalten, weshalb ich – mit gütiger Erlaubnis des Oberarztes Professor Medin – meine Experimente an Kindern im allgemeinen Findelhause begann“.[6]

Gegen die unfreiwilligen Menschenexperimente formierte sich ähnlich wie einige Jahrzehnte zuvor gegen die Tierversuche ein gewisser Widerstand. Auf den ersten Blick wurde der vom wissenschaftlichen Fortschritt beflügelte Siegeszug der Medizin von solchen marginal erscheinenden Kollateralschäden kaum aufgehalten. Wenn wir jedoch das gesamte Feld der Heilkunde im 19. und 20. Jahrhundert ins Auge fassen, bemerken wir, dass die Konjunktur der naturwissenschaftlichen Medizin zugleich eine tiefgehende Aufspaltung der Heilkunde insgesamt bedeutete: nämlich in die angeblich zurückgebliebene traditionelle Heilkunde einerseits und die zukunftsträchtige naturwissenschaftliche Medizin andererseits. Aus der Perspektive der Letzteren erschien Erstere absolut überholt und wurde als „Okkultismus“ gebrandmarkt, sozusagen als ein Relikt einer finsteren Vergangenheit. Tatsächlich jedoch blieb diese Vergangenheit merkwürdigerweise wirkmächtig am Leben. Es etablierte sich nämlich synchron zur Entfaltung der modernen Medizin eine Gegenbewegung, die wir wegen ihres Facettenreichtums besser im Plural als Parallelbewegungen bezeichnen sollten: Homöopathie, Hydropathie und darauf aufbauende Naturheilverfahren, Magnetopathie, Osteopathie, spirituelle Heilweisen und viele andere Konzepte mehr.[7] Je strenger die nun als „Schulmedizin“[8] gebrandmarkte naturwissenschaftliche Medizin das menschliche Leben auf chemische, physikalische und biologische Naturgesetze reduzierte, umso ausschweifender gerieten die alternativen Spekulationen über das gesunde Leben, die Krankheit und ihre Heilung. Die vom österreichischen Esoteriker Rudolf Steiner zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründete „Anthroposophische Medizin“ ist hierfür ein markantes Beispiel.[9] Auf die Naturheilbewegung kommen wir noch zurück (Kap. 8).

Die Trennungslinie zwischen naturwissenschaftlicher Medizin und Naturheilkunde ist nicht so leicht zu ziehen, wie dies in medizinhistorischen Analysen gerne getan wird. Manche Grundauffassung wie die der „Naturheilkraft“ lässt sich auf beiden Seiten feststellen und die jeweiligen ideologischen Muster sind bunter und widersprüchlicher als sich die Historiographen eingestehen wollen. Als Beispiel greife ich hier den Biologen und Wissenschaftsjournalisten Gerhard Venzmer heraus, der mit seinen populärwissenschaftlichen Darstellungen insbesondere der Hormone im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts hervorgetreten ist. In dem von ihm verfassten Kosmos-Bändchen „Geheimnisse des Lebenssaftes“ mischte er seine militärisch-technokratische Beschreibung mit einer naturphilosophisch-religiösen Einstellung gegenüber dem Organismus.[10] Dies kann man gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als zeittypisch bezeichnen, denken wir nur an die Internationale Hygiene-Ausstellung Dresden 1911 und die nachfolgende Gründung des Hygiene-Museums durch den Odol-Fabrikanten Karl August Lingner mit seinem Konzept der „hygienischen Volksbelehrung“.[11]

Venzmer stellte die Funktion des Blutes zunächst im Sinne einer naturwissenschaftlichen Maschinenlogik dar, wobei die (nicht nur damals übliche) Kriegsmetaphorik auffällt: Weiße Blutkörperchen werden als „Polizeitruppen des Lebenssaftes“ begriffen: „Bestimmte Abteilungen der Polizeitruppen-Wanderzellen erscheinen in vermehrter Zahl, um den Kampf des Körpers zu unterstützen“. So sei das Fieber „Selbsthilfe des Organismus gegen eingedrungene Feinde.“ Venzmer wollte dieses militaristische Geschehen zugleich als Wunderwerk der Natur veranschaulichen. Wenn sich der Mensch, so meinte er, in ein winziges amphibisches Wesen verwandeln und eine Rundreise durch den Organismus machen könnte, würde er „mit den Augen des Zellenstaates […] ein ungeheuer verwickeltes Zeigerwerk erblicken, gegen das der Kommandostand eines modernen Kriegsschiffes Kinderspielzeug wäre“.[12] Auf der anderen Seite billigte er auch – mit Rekurs auf eine ehrwürdige medizin- und kulturhistorische Tradition von der chinesischen „Kneif“-Kur (Ya-Ya-Therapie analog zur Akupressur) bis hin zur zeitgenössischen Reizkörper- und Eigenblutbehandlung – dem Blut besondere „Heilkräfte“ zu.[13] Mit pysikalischen und chemischen Überlegungen sei das „Geheimnis des Lebens“ niemals ganz zu erklären, gemäß Nietzsches Ausspruch: „Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe als in deiner besten Weisheit.“[14]


[1] Honnefelder / Schmidt, 2007. [2] J. Reich. 2007, S. 261. [3] A. a. O., S. 262 f. [4] Zit. n. Baader, 1988, S. 37. [5] Quidde, 1900. [6] Ebd., S. 17. [7] R. Jütte, 1996. [8] Wölfing, 1974. [9] Zander, 2007. [10] Venzmer, 1938. [11] Hoegl, 1991. [12] Venzmer, 1938, S. 78. [13] A. a. O., S. 73-75. [14] Zit. a. a. O., S. 79.