14. Kap./4 * Natura in der Maschinenwelt [+ Audio Podcast]

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Der gewaltige Aufbruch von Naturwissenschaft und Technik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war eingebettet in die industrielle Revolution und den aufkommenden Nationalismus und Imperialismus. Wir wollen uns hier weniger mit dem sozialpolitischen Kontext befassen, als vielmehr mit der ideologischen Bedeutung der Naturvorstellungen. Das in vielen Auflagen erschienene Werk von Julius Zöllner „Die Kräfte der Natur und ihre Benutzung“ ist durch die beigegebenen Illustrationen höchst aufschlussreich.[1] Dieser populärwissenschaftliche Sachbuchautor wollte, wie er im Vowort ausführte, aus Liebe zur physikalischen Technologie die Fruchtarkeit der Naturwissenschaften „direkt an dem grünen Baume des Lebens“ zeigen.“[2] Schon das Frontispiz versinnbildlicht seinen Anspruch: Die Natur als thronende Himmelsgöttin birgt unter ihrem Schutzmantel Naturkraft-Engel, die zum Teil mit Blitz und Leuchtfackel hantieren. Aus ihrem Füllhorn gießt die vielbrüstige Naturgöttin, die an Isis  oder Artemis denken lässt, Blumen und Früchte aus. (Abb. [i]) Eine Kabelrolle am unteren Bildrand symbolisiert die Möglichkeit der Ableitung der angedeuteten Naturkräfte. Das Reizvolle der Abbildungen in Zöllners Buch besteht darin, dass die traditionell als göttliche Frau symbolisierte Natur nun ihrerseits zum Symbol des technischen Fortschritts wird. Magie der Natur und Magie der Technik verschmelzen miteinander, werden in eins gesetzt. Letztere wird zum Vollstrecker der ersteren, ohne sie zu vergewaltigen oder gar zu zerstören. Es ist kein Zufall, dass die Motti immer wieder Goethe zitieren.

Zöllners Illustrationen erzählen also die Geschichte der Amalgamierung von Natur und Technik, wobei letztlich unentschieden bleibt, wer wen erläutern soll: die technischen Verfahren die Naturgesetze oder die Naturgesetze die technischen Verfahren. So wird Aequitas, die römische Göttin der Gleichheit und Gerechtigkeit, zur Erläuterung des „Metermaßsystems“ als stattliches Standbild vor einem Brückenpfleiler mit einer Waage in der Hand dargestellt, umgeben von Menschen in messender Tätigkeit. (Abb. [ii]) Die Illustration zum Thema „Die Luftpumpe und die atmosphärische Briefpost“ zeigt eine geflügelte Frauenfigur schräg in der bewegten Luft schweben, Gewand und Haare werden vom Wind in unterschiedliche Richtungen bewegt. Sie wird von einem regenbogenartigen Halbkreis eingerahmt, innerhalb dessen auch Schmetterlinge flattern. (Abb. [iii]) Zum Thema „Hydraulische Maschinen, Pumpen und Feuerspritzen“ sehen wir eine Frau mit entblößtem Oberkörper, deren rechter Arm zu einem Wasserschlauch geworden ist, mit dem sie gegen den Feuerteufel spritzt, während ihr ein Feuerwehrmann von oben zusieht. (Abb. [iv]) Bei der Illustration zum Kapitel über die „Camera obscura“ ist die naturalisierende Personifikation der Technik besonders eindrucksvoll: Eine engelhaft beflügelte Frau hält in der Dunkelkammer mit der einen Hand die Kamera, mit der anderen die Projektionstafel. (Abb. [v]) Die Erfindung des Teleskops identifizierte der Illustrator mit Urania, die in der griechischen Mythologie als Muse der Sternkunde zumeist mit Zeigestab und Himmelsglobus dargestellt wird. Direkt nach diesem Vorbild wurde die entsprechende Illustration bei Zöllner gezeichnet. (Abb. [vi]) Die weltumspannende Kommunikation durch die Erfindung der Telegraphie wurde durch eine Kommunikationskette dargestellt, die die verschiedenen Erdteile miteinander verbindet. Es ist bemerkenswert, dass hier zwei Frauen als Hauptfiguren auftreten, die durch ein Seil, an dem entlang Engel die Botschaften überbringen, miteinander verbunden sind. Beide tragen eine Krone und erscheinen so als Königinnen. Die eine sitzt bekleidet oben auf dem Globus, etwas in den Himmel entrückt, die andere steht mit nacktem Oberkörper unten und sieht dunkel aus. Die weltumspannenden Telekommunikation wurde damit ins Bild gesetzt: die kultivierte Europäerin und die naturhafte Afrikanerin bilden wie Himmel und Erde zwei Pole, die über Leitungen miteinander korrespondieren.(Abb. [vii])

Anmerkung vom 22.09.2015

Der erste elektromagnetische Telegraph wurde 1833 von Wilhelm Weber und Carl Friedrich Gauß in Göttingen erfolgreich eingesetzt. Am Hauptpostamt von Wittenberg, Webers Geburtsstadt, verweist u. a. ein Relief auf dessen Leistung. Näheres siehe mein Supplementary News Blog.   

Zöllners naturphilosophische Verbildlichung technologischer Neuerungen war im ausgehenden 19. Jahrhundert keineswegs einzigartig. Es lassen sich weitere Beispiele dafür finden, wie technische Vorgänge auf die Kräfte der personifizierten Natura projiziert wurden. Hierzu gehörten die 1882 publizierten Federzeichnungen „Magnetismus“ und „Elektrizität“ des österreichischen Malers und Illustrators Karl Karger, wobei wir hier nur auf Letztere eingehen wollen. (Abb. [viii])  Er stellte die „Elektrizität“ wie eine Himmeslgöttin dar, die als Schutzpatronin der Telegraphie ihre gemorste Nachricht in Form eines puttenhaften Sendboten über den Draht schickt. Der betreffende Kommentar des Herausgebers der Bildersammlung, des deutsch-österreichischen Verlegers Martin Gerlach, war bezeichnend: „Die Väterzeit […] wußte nicht von den beiden Zauberinnen [Magnetismus und Elektrizität], sie beschränkte ihre Kenntniss auf die vier Elemente, aus deren Wirken jede Erscheinung ihre Erklärung fand.“[3] Die Magie der Natur in weiblicher Verkörperung war ein beliebtes Bildmotiv der wissenschaftlich-technischen Revolution im 19. Jahrhundert, das sich besonders für künstlerische Ausgestaltungen anbot. Die Bilder des Weiblichen waren in der Regel historisch überdeterminiert. Sie betrafen ja nicht nur die magisch erscheinende Technik, sondern auch die „Wahrheit“ bzw. „Vernunft“ in philosophischer sowie die Nation – etwa als Germania – in politischer Hinsicht. Vérité und raison waren schon in der Französischen Revolution als die neuen Göttinnen angebetet worden (Kap. 11).

Die Identifizierung der deutschen Nation mit der Großen Mutter in der monumentalen Gestalt der Germania spielte vor allem im Kaiserreich eine große Rolle. Sie konnte auf deutschnationale romantische Vorbilder aus napoleonischer Zeit zurückgreifen, etwa Heinrich von Kleists Ode „Germania an ihre Kinder“ (1809). Ein weiteres von unzähligen Beispielen wäre Caroline de la Motte Fouqués „Ruf an die deutschen Frauen“ (1813). Darin formulierte die romnatische Schrifstellerin pathetisch: „Der Riesengeist der alten Germania schreitet durch unsere Provinzen, er ist es, der unsern Männern, unsern Söhnen, unsern Brüdern die schimpflichen Ketten unwürdiger Knechtschaft löst.“[4] Das Niederwalddenkmal oberhalb von Rüdesheim am Rhein präsentiert eine monumentale Germania, die das neu erstandene Kaiserreich und seine Macht symbolisieren sollte.[5] Medizinhistorisch besonders interessant ist eine Karikatur der Gegner des „Impfgesetzes“ von 1874, das den Impfzwang für die Pockenschutzimpfung im Deutsche Reich verordnete. Der Titel lautet: „Germanias Not und Klage über die Vergiftung ihrer Kinder.“

Anmerkung vom 10.01.2016:

Die monumentale Personifizierung der „trauernden Germania“ war nach Gründung des Kaiserreichs offenbar ein beliebtes Bildmotiv. Ein eindrucksvolles Beispiel für eine solche „trauernde Germania“ stellt das Denkmal auf dem Friedhof in Kirchheimbolanden (Rheinpfalz) dar. Näheres siehe mein Supplementary News Blog.

Sie sitzt als umhüllte Frau an einen mächtigen Eichenbaumstamm gelehnt und wird von einem Impfbefürworter mit einer Impfnadel attackiert. (Abb. [ix]) Hier symbolisiert die Muttergestalt gleichermaßen sowohl die Natur als auch das Volk bzw. die Nation. Die Metapher der Vergiftung hatte im Hinblick auf den französischen „Erbfeind“ und die „Franzosenbkrankheit“ (Syphilis) auch eine politische Implikation, wie sie in der oben zitierten Schrift von Caroline de la Motte Fouqué zum Ausdruck kam: Sie beklagte darin, dass es der französischen Politik gelungen sei, „ihr fressendes Gift in das Mark unserer gesunden, deutschen Verfassung zu sprützen.“[6]

Die Allegorie „Neuzeit”, eine Graphik von Franz Simm, zeigt den Triumph des Fortschritts in Form einer weiblichen Figur, die in der rechten Hand ein Fackel hochhält und mit der linken einen Telegraphenmast umfasst. (Abb. [x]) Sie ist umrahmt von Zahnrad, Fabrikschlot, Radfelge und Phiole. Auf einer Art Triumphsäule werden ihr Symbole des neuzeitlichen Forschritts zugeordnet wie die Büste Voltaires, die Jakobinermütze, die Krone Napoleons, Lokomotive und Kanonenrohr. Die Zeichnung des französischen Karikaturisten Jean Veber,  um 1900 produziert, zeigt eine „Allegorie auf die Maschine, die die Männer verschlingt“ (Allégorie sur la machine devoreuse des hommes). (Abb. [xi]) Männer werden von den Speichen eines Rades vernichtet, dessen Antriebskolben von einer nackten wollüstigen Frau besetzt ist. Die Szene wurde seinerzeit vom Herausgeber Eduard Fuchs in zwei Richtungen interpretieren: Symbol der „unheimlichen, geheimen Kraft der Maschine […] ist das Weib. Aber auch umgekehrt: Symbol des männerwürgenden Minotauruscharakters des Weibes ist die Maschine“.[7] In einer rezenten Beschreibung ist von einer „fucking machine inverse“ die Rede, einer umgekehrten Fickmaschine.[8]

Weniger dämonisch erscheint das 1923 geschaffene Ölgemälde „Fleisch und Eisen“ von Georg Scholz, einem Vertreter der Neuen Sachlichkeit. [9] (Abb. [xii]) Es weist in der Konstellation Maschine-Frau eine frappierende Analogie mit dem etwa 20 Jahre älteren Bild von Veber auf, wobei ein direkter Einfluss nicht bekannt ist.[10] Zwei nackte Frauen stehen an einer mächtigen Dampfmaschine. Die beiden Bilder bieten sich selbstverständlich als Gegenstand der gender studies an, die sich gerne psychoanalytischer Deutungensstrategien bedienen, etwa dergestalt, dass die „’Maschine’ als Phallus-Symbol“ zu werten sei.[11] Man könne Vebers Bild sogar als „Allegorie auf die Sexualangst der Männer im Patriarchat, Angst vor der entfesselten weiblichen Potenz, vor der Vagina Dentata, vor der Kastration durch die Frau“ interpetieren, [12] während in Scholz’ Bild eher eine „systemimmanente Kritik an der Technisierung im Spätkapitalismus“ zum Ausdruck komme.[13]

Anmerkung vom 12.09.2015

Die Vagina dentata ist eine weit verbreitete transkulturelle mythische Vorstellung, die noch in der gegenwärtigen Kunst eine gewisse Rolle spielt, wie ein Graffito aus Bonn belegt. Näheres siehe mein Supplementary News Blog

Sind weibliche Allegorien nur Spielbälle männlicher Willkür? Wenn die Frau dabei nur „als Objekt verschlissen“ und „der Frauenkörper nur eine gefügige Leerform für den männlichen Gestaltungswillen“ darstellt, wie die Genderforscherin Cäcilia Rentmeister behauptete, erübrigt sich jede ernsthafte Rezeption der magia naturalis und der von ihr personifizierten medialen Natura-Gestalten. Dann schnurren die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte zu einem männlichen Phantasieprodukt zusammen, die nur eines immer wieder zeigen: Die Willkür des Mannes, der sich die Frau je nach Belieben als Heilige oder als Hure zurechtlegt.

Doch diese feministische Dogmatik gerät in Gefahr, den historischen Boden unter den Füßen zu verlieren und als ideologisches Konstrukt zu erstarren. So werden im „Weiberlexikon“ nicht nur religionsgeschichtliche, naturphilosophische und mythologische Stoffe gänzlich ausgeblendet, sondern ebenso sexualreformerische Intitiativen, die gerade auch von Frauen getragen wurden.[14] Beim Artikel „Sexualität“ interessiert vor allem die Unterdrückung weiblicher Sexualität: „Die Geschichte der menschlichen S. [Sexualität] ist eine Geschichte der Gewalt am weiblichen Menschen. S. wurde und wird begleitet von Unterdrückung und Brutalität in Gestalt von Prügeln, Vergewaltigung, Sadismus bis zum Tode, gewollt oder in Kauf genommen.“[15] Ansonsten wird aber die stärkere biologische Dringlichkeit des männlichen Orgasmus gegenüber dem weiblichen bestätigt: „Der Orgasmus, Höhepunkt der Sexualausübung, gilt für die Frau als nicht so zwingend wie für den Mann“.[16]

Ergänzung dieses Beitrags in meinenm Blog:

Magic of Nature -Supplementary News (2. August 2014)

Foto „Èrotique Voilée“ von Man Ray (1933)

Ergänzung zu 14. Kap./4 * Natura in der Maschinenwelt


[1] Zöllner, 1874. [2] Ebd., S. VI. [3] Zit. n. E. Frietsch, 2006, S. 172 f.; Gerlach, 1882, S. 12. [4] Motte Fouqué, 1813, S. 3. [5] http://de.wikipedia.org/wiki/Niederwalddenkmal#Die_Germania (1.01.2011). [6] Motte Fouqué, 1813, S. 14. [7] E. Fuchs, 1906, S. 262; zit. n. E. Frietsch, 2006, S. 178 und Rentmeister, 1976, S. 106. [8] http://www.lastree.net/situationslog/2007/09/dynamis_de_jean.php (19.06.2012). [9] E. Frietsch, 2006, S. 179. [10] Rentmeister, 1976, S. 112. [11] A. a. O., S. 109. [12] A. a. O., S. 107. [13] Zit. ebd. [14] Hervé / Wurms (Hg.), 2006. [15] Gottlieb, 2006, S. 415. [16] A. a. O., S. 414.


[i] Zöllner, 1874: Frontispiz; → Abb. Zöllner 1874 Frontispiz [ii] Zöllner, 1874, S. 23; → Abb. Zöllner 1877, S. 23 [iii] Zöllner, 1874, S. 150; → Abb. Zöllner 1877, S. 150 [iv] Zöllner, 1874, S. 167; → Abb. Zöllner 1877, S. 167 [v] Zöllner, 1874, S. 235; → Abb. Zöllner 1877, S. 235 [vi] Zöllner, 1874, S. 269; → Abb. Zöllner 1877, S. 269 [vii] Zöllner, 1874, nach S. 346; → Abb. Zöllner 1877, nach S. 346  [viii] E. Frietsch, 2006, Abb. 29; Gerlach, 1882, Nr. 35; → Abb. Karger Elektrizität [ix] H. Schott, 1993, S. 311; → Abb. Karikatur Impfgegner  [x] E. Frietsch, 2006, Abb. 30; Gerlach, 1882, Nr. 6;  → Abb. Simm Neuzeit  [xi] E. Frietsch, 2006, Abb. 31; → Abb. Veber Maschine [xii] E. Frietsch, 2006, Abb. 32; → Abb. Scholz Fleisch und Eisen