14. Kap./4 * Natura in der Maschinenwelt [+ Audio Podcast]

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Der gewaltige Aufbruch von Naturwissenschaft und Technik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war eingebettet in die industrielle Revolution und den aufkommenden Nationalismus und Imperialismus. Wir wollen uns hier weniger mit dem sozialpolitischen Kontext befassen, als vielmehr mit der ideologischen Bedeutung der Naturvorstellungen. Das in vielen Auflagen erschienene Werk von Julius Zöllner „Die Kräfte der Natur und ihre Benutzung“ ist durch die beigegebenen Illustrationen höchst aufschlussreich.[1] Dieser populärwissenschaftliche Sachbuchautor wollte, wie er im Vowort ausführte, aus Liebe zur physikalischen Technologie die Fruchtarkeit der Naturwissenschaften „direkt an dem grünen Baume des Lebens“ zeigen.“[2] Schon das Frontispiz versinnbildlicht seinen Anspruch: Die Natur als thronende Himmelsgöttin birgt unter ihrem Schutzmantel Naturkraft-Engel, die zum Teil mit Blitz und Leuchtfackel hantieren. Aus ihrem Füllhorn gießt die vielbrüstige Naturgöttin, die an Isis  oder Artemis denken lässt, Blumen und Früchte aus. (Abb. [i]) Eine Kabelrolle am unteren Bildrand symbolisiert die Möglichkeit der Ableitung der angedeuteten Naturkräfte. Das Reizvolle der Abbildungen in Zöllners Buch besteht darin, dass die traditionell als göttliche Frau symbolisierte Natur nun ihrerseits zum Symbol des technischen Fortschritts wird. Magie der Natur und Magie der Technik verschmelzen miteinander, werden in eins gesetzt. Letztere wird zum Vollstrecker der ersteren, ohne sie zu vergewaltigen oder gar zu zerstören. Es ist kein Zufall, dass die Motti immer wieder Goethe zitieren.

Zöllners Illustrationen erzählen also die Geschichte der Amalgamierung von Natur und Technik, wobei letztlich unentschieden bleibt, wer wen erläutern soll: die technischen Verfahren die Naturgesetze oder die Naturgesetze die technischen Verfahren. So wird Aequitas, die römische Göttin der Gleichheit und Gerechtigkeit, zur Erläuterung des „Metermaßsystems“ als stattliches Standbild vor einem Brückenpfleiler mit einer Waage in der Hand dargestellt, umgeben von Menschen in messender Tätigkeit. (Abb. [ii]) Die Illustration zum Thema „Die Luftpumpe und die atmosphärische Briefpost“ zeigt eine geflügelte Frauenfigur schräg in der bewegten Luft schweben, Gewand und Haare werden vom Wind in unterschiedliche Richtungen bewegt. Sie wird von einem regenbogenartigen Halbkreis eingerahmt, innerhalb dessen auch Schmetterlinge flattern. (Abb. [iii]) Zum Thema „Hydraulische Maschinen, Pumpen und Feuerspritzen“ sehen wir eine Frau mit entblößtem Oberkörper, deren rechter Arm zu einem Wasserschlauch geworden ist, mit dem sie gegen den Feuerteufel spritzt, während ihr ein Feuerwehrmann von oben zusieht. (Abb. [iv]) Bei der Illustration zum Kapitel über die „Camera obscura“ ist die naturalisierende Personifikation der Technik besonders eindrucksvoll: Eine engelhaft beflügelte Frau hält in der Dunkelkammer mit der einen Hand die Kamera, mit der anderen die Projektionstafel. (Abb. [v]) Die Erfindung des Teleskops identifizierte der Illustrator mit Urania, die in der griechischen Mythologie als Muse der Sternkunde zumeist mit Zeigestab und Himmelsglobus dargestellt wird. Direkt nach diesem Vorbild wurde die entsprechende Illustration bei Zöllner gezeichnet. (Abb. [vi]) Die weltumspannende Kommunikation durch die Erfindung der Telegraphie wurde durch eine Kommunikationskette dargestellt, die die verschiedenen Erdteile miteinander verbindet. Es ist bemerkenswert, dass hier zwei Frauen als Hauptfiguren auftreten, die durch ein Seil, an dem entlang Engel die Botschaften überbringen, miteinander verbunden sind. Beide tragen eine Krone und erscheinen so als Königinnen. Die eine sitzt bekleidet oben auf dem Globus, etwas in den Himmel entrückt, die andere steht mit nacktem Oberkörper unten und sieht dunkel aus. Die weltumspannenden Telekommunikation wurde damit ins Bild gesetzt: die kultivierte Europäerin und die naturhafte Afrikanerin bilden wie Himmel und Erde zwei Pole, die über Leitungen miteinander korrespondieren.(Abb. [vii])

Anmerkung vom 22.09.2015

Der erste elektromagnetische Telegraph wurde 1833 von Wilhelm Weber und Carl Friedrich Gauß in Göttingen erfolgreich eingesetzt. Am Hauptpostamt von Wittenberg, Webers Geburtsstadt, verweist u. a. ein Relief auf dessen Leistung. Näheres siehe mein Supplementary News Blog.   

Zöllners naturphilosophische Verbildlichung technologischer Neuerungen war im ausgehenden 19. Jahrhundert keineswegs einzigartig. Es lassen sich weitere Beispiele dafür finden, wie technische Vorgänge auf die Kräfte der personifizierten Natura projiziert wurden. Hierzu gehörten die 1882 publizierten Federzeichnungen „Magnetismus“ und „Elektrizität“ des österreichischen Malers und Illustrators Karl Karger, wobei wir hier nur auf Letztere eingehen wollen. (Abb. [viii])  Er stellte die „Elektrizität“ wie eine Himmeslgöttin dar, die als Schutzpatronin der Telegraphie ihre gemorste Nachricht in Form eines puttenhaften Sendboten über den Draht schickt. Der betreffende Kommentar des Herausgebers der Bildersammlung, des deutsch-österreichischen Verlegers Martin Gerlach, war bezeichnend: „Die Väterzeit […] wußte nicht von den beiden Zauberinnen [Magnetismus und Elektrizität], sie beschränkte ihre Kenntniss auf die vier Elemente, aus deren Wirken jede Erscheinung ihre Erklärung fand.“[3] Die Magie der Natur in weiblicher Verkörperung war ein beliebtes Bildmotiv der wissenschaftlich-technischen Revolution im 19. Jahrhundert, das sich besonders für künstlerische Ausgestaltungen anbot. Die Bilder des Weiblichen waren in der Regel historisch überdeterminiert. Sie betrafen ja nicht nur die magisch erscheinende Technik, sondern auch die „Wahrheit“ bzw. „Vernunft“ in philosophischer sowie die Nation – etwa als Germania – in politischer Hinsicht. Vérité und raison waren schon in der Französischen Revolution als die neuen Göttinnen angebetet worden (Kap. 11).

Die Identifizierung der deutschen Nation mit der Großen Mutter in der monumentalen Gestalt der Germania spielte vor allem im Kaiserreich eine große Rolle. Sie konnte auf deutschnationale romantische Vorbilder aus napoleonischer Zeit zurückgreifen, etwa Heinrich von Kleists Ode „Germania an ihre Kinder“ (1809). Ein weiteres von unzähligen Beispielen wäre Caroline de la Motte Fouqués „Ruf an die deutschen Frauen“ (1813). Darin formulierte die romnatische Schrifstellerin pathetisch: „Der Riesengeist der alten Germania schreitet durch unsere Provinzen, er ist es, der unsern Männern, unsern Söhnen, unsern Brüdern die schimpflichen Ketten unwürdiger Knechtschaft löst.“[4] Das Niederwalddenkmal oberhalb von Rüdesheim am Rhein präsentiert eine monumentale Germania, die das neu erstandene Kaiserreich und seine Macht symbolisieren sollte.[5] Medizinhistorisch besonders interessant ist eine Karikatur der Gegner des „Impfgesetzes“ von 1874, das den Impfzwang für die Pockenschutzimpfung im Deutsche Reich verordnete. Der Titel lautet: „Germanias Not und Klage über die Vergiftung ihrer Kinder.“

Anmerkung vom 10.01.2016:

Die monumentale Personifizierung der „trauernden Germania“ war nach Gründung des Kaiserreichs offenbar ein beliebtes Bildmotiv. Ein eindrucksvolles Beispiel für eine solche „trauernde Germania“ stellt das Denkmal auf dem Friedhof in Kirchheimbolanden (Rheinpfalz) dar. Näheres siehe mein Supplementary News Blog.

Sie sitzt als umhüllte Frau an einen mächtigen Eichenbaumstamm gelehnt und wird von einem Impfbefürworter mit einer Impfnadel attackiert. (Abb. [ix]) Hier symbolisiert die Muttergestalt gleichermaßen sowohl die Natur als auch das Volk bzw. die Nation. Die Metapher der Vergiftung hatte im Hinblick auf den französischen „Erbfeind“ und die „Franzosenbkrankheit“ (Syphilis) auch eine politische Implikation, wie sie in der oben zitierten Schrift von Caroline de la Motte Fouqué zum Ausdruck kam: Sie beklagte darin, dass es der französischen Politik gelungen sei, „ihr fressendes Gift in das Mark unserer gesunden, deutschen Verfassung zu sprützen.“[6]

Die Allegorie „Neuzeit”, eine Graphik von Franz Simm, zeigt den Triumph des Fortschritts in Form einer weiblichen Figur, die in der rechten Hand ein Fackel hochhält und mit der linken einen Telegraphenmast umfasst. (Abb. [x]) Sie ist umrahmt von Zahnrad, Fabrikschlot, Radfelge und Phiole. Auf einer Art Triumphsäule werden ihr Symbole des neuzeitlichen Forschritts zugeordnet wie die Büste Voltaires, die Jakobinermütze, die Krone Napoleons, Lokomotive und Kanonenrohr. Die Zeichnung des französischen Karikaturisten Jean Veber,  um 1900 produziert, zeigt eine „Allegorie auf die Maschine, die die Männer verschlingt“ (Allégorie sur la machine devoreuse des hommes). (Abb. [xi]) Männer werden von den Speichen eines Rades vernichtet, dessen Antriebskolben von einer nackten wollüstigen Frau besetzt ist. Die Szene wurde seinerzeit vom Herausgeber Eduard Fuchs in zwei Richtungen interpretieren: Symbol der „unheimlichen, geheimen Kraft der Maschine […] ist das Weib. Aber auch umgekehrt: Symbol des männerwürgenden Minotauruscharakters des Weibes ist die Maschine“.[7] In einer rezenten Beschreibung ist von einer „fucking machine inverse“ die Rede, einer umgekehrten Fickmaschine.[8]

Weniger dämonisch erscheint das 1923 geschaffene Ölgemälde „Fleisch und Eisen“ von Georg Scholz, einem Vertreter der Neuen Sachlichkeit. [9] (Abb. [xii]) Es weist in der Konstellation Maschine-Frau eine frappierende Analogie mit dem etwa 20 Jahre älteren Bild von Veber auf, wobei ein direkter Einfluss nicht bekannt ist.[10] Zwei nackte Frauen stehen an einer mächtigen Dampfmaschine. Die beiden Bilder bieten sich selbstverständlich als Gegenstand der gender studies an, die sich gerne psychoanalytischer Deutungensstrategien bedienen, etwa dergestalt, dass die „’Maschine’ als Phallus-Symbol“ zu werten sei.[11] Man könne Vebers Bild sogar als „Allegorie auf die Sexualangst der Männer im Patriarchat, Angst vor der entfesselten weiblichen Potenz, vor der Vagina Dentata, vor der Kastration durch die Frau“ interpetieren, [12] während in Scholz’ Bild eher eine „systemimmanente Kritik an der Technisierung im Spätkapitalismus“ zum Ausdruck komme.[13]

Anmerkung vom 12.09.2015

Die Vagina dentata ist eine weit verbreitete transkulturelle mythische Vorstellung, die noch in der gegenwärtigen Kunst eine gewisse Rolle spielt, wie ein Graffito aus Bonn belegt. Näheres siehe mein Supplementary News Blog

Sind weibliche Allegorien nur Spielbälle männlicher Willkür? Wenn die Frau dabei nur „als Objekt verschlissen“ und „der Frauenkörper nur eine gefügige Leerform für den männlichen Gestaltungswillen“ darstellt, wie die Genderforscherin Cäcilia Rentmeister behauptete, erübrigt sich jede ernsthafte Rezeption der magia naturalis und der von ihr personifizierten medialen Natura-Gestalten. Dann schnurren die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte zu einem männlichen Phantasieprodukt zusammen, die nur eines immer wieder zeigen: Die Willkür des Mannes, der sich die Frau je nach Belieben als Heilige oder als Hure zurechtlegt.

Doch diese feministische Dogmatik gerät in Gefahr, den historischen Boden unter den Füßen zu verlieren und als ideologisches Konstrukt zu erstarren. So werden im „Weiberlexikon“ nicht nur religionsgeschichtliche, naturphilosophische und mythologische Stoffe gänzlich ausgeblendet, sondern ebenso sexualreformerische Intitiativen, die gerade auch von Frauen getragen wurden.[14] Beim Artikel „Sexualität“ interessiert vor allem die Unterdrückung weiblicher Sexualität: „Die Geschichte der menschlichen S. [Sexualität] ist eine Geschichte der Gewalt am weiblichen Menschen. S. wurde und wird begleitet von Unterdrückung und Brutalität in Gestalt von Prügeln, Vergewaltigung, Sadismus bis zum Tode, gewollt oder in Kauf genommen.“[15] Ansonsten wird aber die stärkere biologische Dringlichkeit des männlichen Orgasmus gegenüber dem weiblichen bestätigt: „Der Orgasmus, Höhepunkt der Sexualausübung, gilt für die Frau als nicht so zwingend wie für den Mann“.[16]

Ergänzung dieses Beitrags in meinenm Blog:

Magic of Nature -Supplementary News (2. August 2014)

Foto „Èrotique Voilée“ von Man Ray (1933)

Ergänzung zu 14. Kap./4 * Natura in der Maschinenwelt


[1] Zöllner, 1874. [2] Ebd., S. VI. [3] Zit. n. E. Frietsch, 2006, S. 172 f.; Gerlach, 1882, S. 12. [4] Motte Fouqué, 1813, S. 3. [5] http://de.wikipedia.org/wiki/Niederwalddenkmal#Die_Germania (1.01.2011). [6] Motte Fouqué, 1813, S. 14. [7] E. Fuchs, 1906, S. 262; zit. n. E. Frietsch, 2006, S. 178 und Rentmeister, 1976, S. 106. [8] http://www.lastree.net/situationslog/2007/09/dynamis_de_jean.php (19.06.2012). [9] E. Frietsch, 2006, S. 179. [10] Rentmeister, 1976, S. 112. [11] A. a. O., S. 109. [12] A. a. O., S. 107. [13] Zit. ebd. [14] Hervé / Wurms (Hg.), 2006. [15] Gottlieb, 2006, S. 415. [16] A. a. O., S. 414.


[i] Zöllner, 1874: Frontispiz; → Abb. Zöllner 1874 Frontispiz [ii] Zöllner, 1874, S. 23; → Abb. Zöllner 1877, S. 23 [iii] Zöllner, 1874, S. 150; → Abb. Zöllner 1877, S. 150 [iv] Zöllner, 1874, S. 167; → Abb. Zöllner 1877, S. 167 [v] Zöllner, 1874, S. 235; → Abb. Zöllner 1877, S. 235 [vi] Zöllner, 1874, S. 269; → Abb. Zöllner 1877, S. 269 [vii] Zöllner, 1874, nach S. 346; → Abb. Zöllner 1877, nach S. 346  [viii] E. Frietsch, 2006, Abb. 29; Gerlach, 1882, Nr. 35; → Abb. Karger Elektrizität [ix] H. Schott, 1993, S. 311; → Abb. Karikatur Impfgegner  [x] E. Frietsch, 2006, Abb. 30; Gerlach, 1882, Nr. 6;  → Abb. Simm Neuzeit  [xi] E. Frietsch, 2006, Abb. 31; → Abb. Veber Maschine [xii] E. Frietsch, 2006, Abb. 32; → Abb. Scholz Fleisch und Eisen

14. Kap./3 * Natürliche Magie, technischer Zauber

Wenn die zweite Natur die erste substituiert hat, tritt sie für den Menschen gleichsam in die Fußstapfen der ersten und scheint nun selbst mit magischen Qualitäten ausgestattet zu sein. Haben wir es mit einer magia naturalis secunda oder altera zu tun? Der Mensch wäre dann insofern in einer Selbstverzauberung befangen, als er von seinen eigenen Produkten, der von ihm hervorgebrachten zweiten Natur, beherrscht wird. Wir sind hier insbesondere mit dem Verhältnis von Natur und Technik konfrontiert, mit dem sich der Philosoph Hans Blumenberg schon früh auseinandergesetzt hat.[1] Die moderne Technik sei für den Menschen unverfügbar geworden, folge einer „Dynamik der Sache“, was sich in der Metapher von der „Dämonie der Technik“ niederschlage. Erst im Horizont der christlichen Ontologie könne der Mensch „seinem Wesen nach in Gegensatz und Auseinandersetzung mit der Natur und in ein Macht- und Vergewaltigungsverhältnis zur Natur treten“.[2] Er gehe nicht mehr nach antikem Verständnis aus der Natur hervor, sondern sei in sie „hineingestellt“. So komme es zu einem „tragischen Hiatus“: „Die Ursünde macht die Natur zum Widerpart seines Selbstbesitzes.“ Am Beginn der Neuzeit sei „die Einheit des Ursprungs von Wissenschaft, Technik, Kunst und Macht“ sichtbar geworden: „da die gotteschaffene Welt dem Menschen nicht zueigen werden kann, ist der Mensch in die Not gestürzt, seine eigene Welt aus eigener Kraft zu bilden.“ Es gehe nun nach Ficinos Programmbegriff um eine menschliche re-formatio.[3] Nicht absehbar seien die Tendenzen der „perfektionierten Maschinenwelt“ als zweiter Natur in ihrem Umgang mit der ersten.

Die Technikfeindlichkeit der modernen Ökologiebewegung geht von dem Konflikt zwischen erster und zweiter Natur aus. Andererseits zeigt gerade die Technikgeschichte, wie sehr Naturideale im Selbstverständnis der Technik eine Rolle spielten, lange bevor der Begriff „Bionik“ (bionics), der in den 1960er Jahren geprägt wurde, auftauchte. Der Bielefelder Wissenschaftshistoriker Joachim Radkau hat schon vor geraumer Zeit auf die „moderne Vieldeutigkeit und vielseitige Verwendbarkeit des Naturbegriffs“ und seine „verwirrende Paradoxie“ hingeweisen.[4] Er stellte eine gewisse Ambivalenz, „ein Schwanken zwischen liebevollem Respekt und Agressivität gegenüber der Natur“ fest. So habe die Konstruktion technischer Wunderwerke nicht selten den Respekt vor den „Wunderwerken der Natur“ erhöht. Überhaupt habe sich das Naturverständnis der (deutschen) Techniker von dem der Naturwissenschaftler unterschieden. Nicht das Bild der Entschleierung sei für jene maßgeblich gewesen, sondern eher das Element des Unberechenbaren, die Vorstellung, dass es auch „Gegenschläge der Natur“ gebe und Unfälle als Strafe der Natur für menschliche Fehler aufzufassen seien.[5] „Begeisterung für die Wunder der Natur und Naturzerstörung befinden sich nicht selten in enger historischer Nachbarschaft. Der Enthusiasmus vieler Wissenschaftler und Techniker für die Natur war gewiß echt; aber Liebe bekommt eben leicht eine aggresive Komponente.“[6]  

Radkau formulierte in den 1990er Jahren kritische und zum Teil tabuisierte Fragen. Er stellte die Öko-Bewegung in Deutschland als widersprüchlich dar. Sie sei aus einem „Bündnis von Wertkonservativen und Linken, Anthroposophen und Marxisten, von Sekten und Hedonisten hervorgegangen.“[7] Er setzte sich vor allem mit der verworrenen Geschichte der „Natur“-Ideen auseinamder, bei der „einfühlsame Naturerkenntnis und deformierende Manipulation der Natur“ häufig eng benachbart seien.[8] Er plädierte für den historischer Zugang als „Gegenmittel gegen Glaubenskriege“.[9]  Die Öko-Bewegung sei als das zu begreifen, was sie wirklich sei, nämlich „als historisch gewordenes Amalgam aus heterogenen, in jedem Fall aber um menschliche Interessen kreisende Bewegungen. Ein ahistorisch-systematischer ‚Approach’ zur gegenwärgien Öko-Bewegung mit dem Ehrgeiz, diese von einer einzigen Theorie her zu definieren, führt zwangsläufig in die Irre.“[10]

Die aufkommenden Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert, die eng mit den technischen Innovationen verbunden waren, zielten keineswegs nur auf eine aggressive Naturbeherrschung ab. Viele ihrer Vertreter äußerten nebenbei auch naturphilosophische Gedanken, wie etwa der Chemiker Justus Liebig, der im Hinblick auf die Problematik des von ihm entwickelten „Patentdüngers“ im Vergleich zum Stalldünger mit ironisch gebrochenem Enrst meinte:„Ich hatte mich an der Weisheit des Schöpfers versündigt und dafür meine gerechte Strafe empfangen. Ich wollte sein Werk verbessern, und in meiner Blindheit glaubte ich, daß in der wundervollen Kette von Gesetzen, welche das Leben an der Oberfläche der Erde fesseln und immer frisch erhalten, ein Glied vergessen sei, was ich, der schwache, ohnmächtige Wurm ersetzen müsse.“[11] Solcher Rekurs auf die Magie der primären Natur, auf die immer wieder Loblieder angestimmt wurden, geschah vorzugsweise im Falle des Misslingens eines Projektes, eines Versagens der Technik mit schädlichen Folgen für den Menschen. Dort, wo die technische Errungenschaft funktionierte und durch ihre Leistungsfähigkeit glänzte und Bewunderung hervorrief, übernahm sie stillschweigend die Rolle der primären Natur und erschien den Zeitgenossen als wunderbare Kraftquelle und Verwandlungskünstlerin. Erschienen in der alchemistischen Vorstellungswelt die Naturelemente und ihre Kräfte als erotische Agenten, die  sich vereinigen und Früchte hervorbringen konnten, so breitete sich nun die „Erotik der Maschinenwelt“ aus, wie sie die Zeichnung „Erzeugung des Dampfes“ sichtbar macht, die der Münchner Maler Wilhelm von Kaulbach 1859 anfertigte: „Vulkan, feuerspeiend, erobert eine Nymphe und aus dieser Begattung geht Dampf hervor, während, gleich daneben, ein eisernes Rad zu rollen beginnt.“[12] (Abb. [i]) Aus feministischer Sicht wird hier jedoch eine Vergewaltigung gezeigt: „Die Wasserfrau versucht Vulkan von sich zu stoßen, doch der ist deutlich stärker und hält sie mit festem Griff umklammert.“[13] Hier werde also „der Sieg der Technik über die Natur“ dargestellt. Die Kopulation lässt sich freilich auch naturphilosophisch interpretieren. Kaulbach wollte nämlich darstellen, wie aus den Naturelementen Feuer und Wasser der das Rad antreibende Wasserdampf entsteht. Er bediente sich der griechischen Mythologie: Der feuerspeiende Mann, an seinen geflügelten Füßen als Hermes zu erkennen, begattet die Köngistochter Herse. Sie zeugen Kephalos, der als kraftvoller Jüngling Dampf aus seinem  Mund ausstößt.

Die Magie der Natur und die Wunder der Technik konnten als gerade in der Kunst miteinander verschmolzen werden. Ein illustres Beispiel bietet der 1871 enthüllte Tylor Davidson Fountain in Cincinnati (Ohio), die größte und meistbesuchte Brunnenanlage in den USA. Auf ihrer Spitze steht „The Genius of Water“, eine Frau, deren weiblichen Formen auch durch den langen Überhang hindurch erkennbar bleiben. (Abb. [ii]) Sie hat beide Arme waagerecht ausgebreitet und aus ihren nach unten gerichteten Handflächen rieselt das Wasser in feinem Strahl. Es benetzt die riesige Brunnenanlage mit vielen Figuren, die den „Wert des Wassers für die Menschheit symbolisieren“. [14]  Direkt unterhalb von ihr befinden sich vier männliche Gestalten, „die den Nutzen des Wassers für alles Leben verkörpern“. Auf weitere Details soll nicht eingegangen werden. Die Entstehungsgeschichte des „Genius of Water“ als Hauptfigur des Brunnens ist interessant. Ferdinand von Miller, der Inspektor der Königlichen Erzgießerei in München, und der Bildhauer und Maler August von Kreling hatten „bereits in den 1840er Jahren an Entwürfen für einen derartigen Brunnen gearbeitet. Inspiriert worden waren sie dazu durch eine Mariendarstellung in Frankreich. Maria hielt hier ihre ausgestreckten Arme nach oben und von ihren Handflächen gingen Lichtstrahlen aus. Diese Lichtstrahlen sollten bei der geplanten Brunnenfigur durch Wasserstrahlen ersetzt werden.“[15] Übrigens heiratete von Kreling 1854 eine Tochter des oben erwähnten Malers Wilhelm von Kaulbach. 1867 wurde dann ein Vertrag mit einem reichen Geschäftsmann aus Cincinnati über die Herstellung der Brunnenfigur auf der Grundlage früherer Skizzen abgeschlossen, die Ferdinand von Miller dann in Bronze goß. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich der „Genius des Wassers“ ideengeschichtlich überdeterminiert. Er stellt eine Mischfigur von Maria und Natura dar (Kap. 40), eine dem irdischen Leben von oben Kraft spendende Frau. Sie agiert im Sinne des Mesmerismus: Die feinen Wasserfontainen aus den Handflächen gleichen magnetischen Handstrahlen, mit denen das „Fluidum“ übertragen wird. Aber das Besondere an diesem Brunnen war seine Qualität als ein raffiniertes technisches Kunstwerk, dass seinerzeit aus technologischen Gründen (noch) nicht in den USA hergestellt werden konnte.

Anmerkung vom 21.09.2015

Eine andere Art lebensspendender Brunnen(jung)frau zeigt der Vier-Jahreszeiten- oder Gewandbrunnen in Halle (Saale). Näheres siehe mein Supplementary News Blog

In der Mitte des 19. Jahrhunderts geriet der akademische Diskurs in einen merkwürdigen Schwebezustand: Einerseits wird die magia naturalis immer noch ernsthaft im Sinne der Naturphilosophie abgehandelt, etwa von dem „spätromantischen“ Arzt und Landschaftsmaler Carl Gustav Carus;[16] andererseits diente sie nur noch als historische Kulisse für technische Zaubertricks. So verfasste der „ordentliche Professor der Technologie an der Universität zu Tübingen” Johann Heinrich Moritz von Poppe einen „Neuen Wunder-Schauplatz der Künste“, der Aufschlüsse über die „interessantesten Erscheinungen im Gebiete der Magie, Alchymie, Chemie, Physik, Geheimnisse und Kräfte der Natur, Magnetismus, Sympathie und verwandte Wissenschaften“ geben sollte.[17] Dabei berief er sich namentlich auf „Theophrastus Paracelsus“. Die darin aufgeführten „mechanischen“ und „elektrischen Kunsstücke“ stellten im Sinne einer Gebrauchsanweisung reine Zaubertricks dar. Im Gegensatz zum bombastischen Anspruch im Buchtitel verzichtete der Autor gänzlich auf historische Bezüge und naturphilosophische Erklärungen oder Spekulationen. Es ging ihm ausschließlich um Taschenspielereien, die er mit einem marktfähigen magischen Anstrich versah.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand in Literatur, Kunst, Wissenschaft und Technik ein spannungsvolles Mischbild: „Erste“ und „zweite Natur“ begegneten sich in Form von Biedermeier und Spätromantik einerseits und Industrialisierung und Gründerzeit andererseits. Eine gewisse Wehmut über die gute alte Zeit, die am Verschwinden war, schlug sich in Literatur und Kunst nieder. Joseph von Eichendorffs Poesie traf diesen melancholischen Grundton einer Übergangszeit meisterhaft, in der die Magie der Natur von der Magie der Technik abgeöst wurde. Ein illustratives Beispiel bietet das Titelblatt eines Bildbandes über die Rheinpfalz, auf dem „Palatia, die blonde Tocher der Germania zu sehen ist. (Abb. [iii])  Es wird eingehend erklärt.[18] Palatia trägt die Kurkrone auf dem Haupt, von dem ein Schleier herabfällt, der ihre Gestalt halb umhüllt, einen Arm hat sie dem jungenhaften Bacchus über die Schulter gelegt. Vater Rhein sitzt zu ihren Füßen und treibt mit seinem Wasserstrahl offenbar Räder wie bei einer Mühle an, die mit rauchenden Industrieschloten in Verbindung gebracht werden, möglicherweise ein Hinweis auf einen Mannheimer Vorläufer der BASF in Ludwigshafen. Auf der anderen Rheinseite hebt grüßend der „kräftige Gambrinus“ seinen Bierkrug, der legendäre Erfinder des Bierbrauens, der das „Bruderland Bayern“ symbolisiert. Palatia, Bacchus, Rhein und Gambrinus sind wegen ihrer Körpergröße quasi göttliche Gestalten gegenüber den kleinen Menschen, die als Winzer, Bergleute und Händler ihren Alltagsgeschäften nachgehen. Das Zusammengehen von alter und neuer Zeit wird in einem Detail besonders deutlich: Eine Lokomotive „mit den Bergschätzen des Westrichs“ kommt mit rauchendem Schlot aus dem Tunnel gefahren, während um die Tunnelöffnung herum zwergenhafte „Berggeister“ mit Zipfelmützen sitzen, „welche durch das schnaubende Ungethüm aus der Tiefe aufgescheucht, neugierig nach dem neuen Wunder schauen.“ Bergmännlein und Lokomotive bilden hier eine harmonische Idylle, wobei die sagenhaften Elementargeister, zu denen Paracelsus die Bergmännlein zählte, freilich dem „Dampfross“ zu weichen haben.

Für Darstellungen der Palatia in der bayerischen Rheinpfalz um 1900 habe ich kürzlich zwei weitere Beispiele gefunden. Es handelt sich um eine Skulptur in Bayern und eine in München. Sie werden im Supplementary News Blog vorgestellt:

Da die Elektrizität seit ihrer ersten künstlichen Erzeugung in der Mitte des 18. Jahrhunderts als Offenbarung der verbogenen göttlichen Naturkräfte empfunden wurde, nimmt es nicht Wunder, dass sie um 1900 analog zu anderen technischen Neuerungen immer noch mit magischen Attributen versehen war: Elektrische Himmelsgöttin, elektrisch aufgeladene Paare, elektrische Blitze boten beliebte Motive in der Kunst des Jugendstils, die an frühere Darstellungen der Natura erinnern. (Abb. [iv])

Anmerkung vom 22.09.2015

Elektrische Blitze sieht man auch am Hauptpostamt Wittenberg, das Anfang der 1890er Jahre errichtet wurde — wohl in Erinnerung an Wilhelm Weber, den Entwickler des elektromagnetischen Telegrafen. Näheres im Supplementary news Blog. 

So schilderte der deutsche Militärarzt Felix Buttersack die Luftelektrizität mit magisch anmutenden Bildern: „Dieses elektrische Meer, in dem wir leben, ist ebenso gut wie die Armosphäre, die uns stets umgibt, in einer ewigen Bewegung“. Das „atmosphärische Fluidum“ bestimme Wohl und Wehe der Menschen, und durch ein Gewitter könnten allerlei Störungen in „erkrankten oder labilen Nervenapparaten“ ausgelöst werden.[19] Am Beispiel von Buttersack, der ein Vordenker der NS-Euthanaise war, haben wir bereits gesehen, wie selbstverständlich Schulmedizin und Naturheilkunde, naturmagisches und völkisches Denken, mystische und technische Einstellungen ineinander übergehen konnten (Kap. 12).


[1] Blumenberg, 1951. [2] Ebd., S. 464. [3] A. a. O., S. 466. [4] Radkau, 1994, S. 284. [5] A. a. O., S. 305. [6] A. a. O., S. 309. [7] Radkau, 1993, S. 91. [8] A. a. O., S. 93. [9] A. a. O., S. 104. [10] A. a. O., S. 106. [11] Zit. n. Manstein, 1961, S. 33. [12] Asendorf, 1984, S. 76. [13] E. Frietsch, 2006, S. 172. [14] http://de.wikipedia.org/wiki/Tyler_Davidson_Fountain (5.02.2013). [15] Ebd. [16] Carus, 1857. [17] Poppe, 1839/1982. [18] Weiss [1855], 1979 [„Erklärung des Titelbilds“]. [19] Buttersack, 1903, S. 177.

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[i] Asendorf, 1984, S. 77; → Abb. Kaulbach 1859  [ii] http://en.wikipedia.org/wiki/File:Cincinnati-fountain-genius-of-water.jpg (5.02.2013); →Abb. Tylor Davidson Fountain [iii] Carl, 1998: Frontispiz „Palatina“ [sic]; Weiss [1855], 1979; → Abb. Palatia [iv] Asendorf, 1984, S. 118; → Abb. Elektrizität um 1900