14. Kap./3 * Natürliche Magie, technischer Zauber

Wenn die zweite Natur die erste substituiert hat, tritt sie für den Menschen gleichsam in die Fußstapfen der ersten und scheint nun selbst mit magischen Qualitäten ausgestattet zu sein. Haben wir es mit einer magia naturalis secunda oder altera zu tun? Der Mensch wäre dann insofern in einer Selbstverzauberung befangen, als er von seinen eigenen Produkten, der von ihm hervorgebrachten zweiten Natur, beherrscht wird. Wir sind hier insbesondere mit dem Verhältnis von Natur und Technik konfrontiert, mit dem sich der Philosoph Hans Blumenberg schon früh auseinandergesetzt hat.[1] Die moderne Technik sei für den Menschen unverfügbar geworden, folge einer „Dynamik der Sache“, was sich in der Metapher von der „Dämonie der Technik“ niederschlage. Erst im Horizont der christlichen Ontologie könne der Mensch „seinem Wesen nach in Gegensatz und Auseinandersetzung mit der Natur und in ein Macht- und Vergewaltigungsverhältnis zur Natur treten“.[2] Er gehe nicht mehr nach antikem Verständnis aus der Natur hervor, sondern sei in sie „hineingestellt“. So komme es zu einem „tragischen Hiatus“: „Die Ursünde macht die Natur zum Widerpart seines Selbstbesitzes.“ Am Beginn der Neuzeit sei „die Einheit des Ursprungs von Wissenschaft, Technik, Kunst und Macht“ sichtbar geworden: „da die gotteschaffene Welt dem Menschen nicht zueigen werden kann, ist der Mensch in die Not gestürzt, seine eigene Welt aus eigener Kraft zu bilden.“ Es gehe nun nach Ficinos Programmbegriff um eine menschliche re-formatio.[3] Nicht absehbar seien die Tendenzen der „perfektionierten Maschinenwelt“ als zweiter Natur in ihrem Umgang mit der ersten.

Die Technikfeindlichkeit der modernen Ökologiebewegung geht von dem Konflikt zwischen erster und zweiter Natur aus. Andererseits zeigt gerade die Technikgeschichte, wie sehr Naturideale im Selbstverständnis der Technik eine Rolle spielten, lange bevor der Begriff „Bionik“ (bionics), der in den 1960er Jahren geprägt wurde, auftauchte. Der Bielefelder Wissenschaftshistoriker Joachim Radkau hat schon vor geraumer Zeit auf die „moderne Vieldeutigkeit und vielseitige Verwendbarkeit des Naturbegriffs“ und seine „verwirrende Paradoxie“ hingeweisen.[4] Er stellte eine gewisse Ambivalenz, „ein Schwanken zwischen liebevollem Respekt und Agressivität gegenüber der Natur“ fest. So habe die Konstruktion technischer Wunderwerke nicht selten den Respekt vor den „Wunderwerken der Natur“ erhöht. Überhaupt habe sich das Naturverständnis der (deutschen) Techniker von dem der Naturwissenschaftler unterschieden. Nicht das Bild der Entschleierung sei für jene maßgeblich gewesen, sondern eher das Element des Unberechenbaren, die Vorstellung, dass es auch „Gegenschläge der Natur“ gebe und Unfälle als Strafe der Natur für menschliche Fehler aufzufassen seien.[5] „Begeisterung für die Wunder der Natur und Naturzerstörung befinden sich nicht selten in enger historischer Nachbarschaft. Der Enthusiasmus vieler Wissenschaftler und Techniker für die Natur war gewiß echt; aber Liebe bekommt eben leicht eine aggresive Komponente.“[6]  

Radkau formulierte in den 1990er Jahren kritische und zum Teil tabuisierte Fragen. Er stellte die Öko-Bewegung in Deutschland als widersprüchlich dar. Sie sei aus einem „Bündnis von Wertkonservativen und Linken, Anthroposophen und Marxisten, von Sekten und Hedonisten hervorgegangen.“[7] Er setzte sich vor allem mit der verworrenen Geschichte der „Natur“-Ideen auseinamder, bei der „einfühlsame Naturerkenntnis und deformierende Manipulation der Natur“ häufig eng benachbart seien.[8] Er plädierte für den historischer Zugang als „Gegenmittel gegen Glaubenskriege“.[9]  Die Öko-Bewegung sei als das zu begreifen, was sie wirklich sei, nämlich „als historisch gewordenes Amalgam aus heterogenen, in jedem Fall aber um menschliche Interessen kreisende Bewegungen. Ein ahistorisch-systematischer ‚Approach’ zur gegenwärgien Öko-Bewegung mit dem Ehrgeiz, diese von einer einzigen Theorie her zu definieren, führt zwangsläufig in die Irre.“[10]

Die aufkommenden Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert, die eng mit den technischen Innovationen verbunden waren, zielten keineswegs nur auf eine aggressive Naturbeherrschung ab. Viele ihrer Vertreter äußerten nebenbei auch naturphilosophische Gedanken, wie etwa der Chemiker Justus Liebig, der im Hinblick auf die Problematik des von ihm entwickelten „Patentdüngers“ im Vergleich zum Stalldünger mit ironisch gebrochenem Enrst meinte:„Ich hatte mich an der Weisheit des Schöpfers versündigt und dafür meine gerechte Strafe empfangen. Ich wollte sein Werk verbessern, und in meiner Blindheit glaubte ich, daß in der wundervollen Kette von Gesetzen, welche das Leben an der Oberfläche der Erde fesseln und immer frisch erhalten, ein Glied vergessen sei, was ich, der schwache, ohnmächtige Wurm ersetzen müsse.“[11] Solcher Rekurs auf die Magie der primären Natur, auf die immer wieder Loblieder angestimmt wurden, geschah vorzugsweise im Falle des Misslingens eines Projektes, eines Versagens der Technik mit schädlichen Folgen für den Menschen. Dort, wo die technische Errungenschaft funktionierte und durch ihre Leistungsfähigkeit glänzte und Bewunderung hervorrief, übernahm sie stillschweigend die Rolle der primären Natur und erschien den Zeitgenossen als wunderbare Kraftquelle und Verwandlungskünstlerin. Erschienen in der alchemistischen Vorstellungswelt die Naturelemente und ihre Kräfte als erotische Agenten, die  sich vereinigen und Früchte hervorbringen konnten, so breitete sich nun die „Erotik der Maschinenwelt“ aus, wie sie die Zeichnung „Erzeugung des Dampfes“ sichtbar macht, die der Münchner Maler Wilhelm von Kaulbach 1859 anfertigte: „Vulkan, feuerspeiend, erobert eine Nymphe und aus dieser Begattung geht Dampf hervor, während, gleich daneben, ein eisernes Rad zu rollen beginnt.“[12] (Abb. [i]) Aus feministischer Sicht wird hier jedoch eine Vergewaltigung gezeigt: „Die Wasserfrau versucht Vulkan von sich zu stoßen, doch der ist deutlich stärker und hält sie mit festem Griff umklammert.“[13] Hier werde also „der Sieg der Technik über die Natur“ dargestellt. Die Kopulation lässt sich freilich auch naturphilosophisch interpretieren. Kaulbach wollte nämlich darstellen, wie aus den Naturelementen Feuer und Wasser der das Rad antreibende Wasserdampf entsteht. Er bediente sich der griechischen Mythologie: Der feuerspeiende Mann, an seinen geflügelten Füßen als Hermes zu erkennen, begattet die Köngistochter Herse. Sie zeugen Kephalos, der als kraftvoller Jüngling Dampf aus seinem  Mund ausstößt.

Die Magie der Natur und die Wunder der Technik konnten als gerade in der Kunst miteinander verschmolzen werden. Ein illustres Beispiel bietet der 1871 enthüllte Tylor Davidson Fountain in Cincinnati (Ohio), die größte und meistbesuchte Brunnenanlage in den USA. Auf ihrer Spitze steht „The Genius of Water“, eine Frau, deren weiblichen Formen auch durch den langen Überhang hindurch erkennbar bleiben. (Abb. [ii]) Sie hat beide Arme waagerecht ausgebreitet und aus ihren nach unten gerichteten Handflächen rieselt das Wasser in feinem Strahl. Es benetzt die riesige Brunnenanlage mit vielen Figuren, die den „Wert des Wassers für die Menschheit symbolisieren“. [14]  Direkt unterhalb von ihr befinden sich vier männliche Gestalten, „die den Nutzen des Wassers für alles Leben verkörpern“. Auf weitere Details soll nicht eingegangen werden. Die Entstehungsgeschichte des „Genius of Water“ als Hauptfigur des Brunnens ist interessant. Ferdinand von Miller, der Inspektor der Königlichen Erzgießerei in München, und der Bildhauer und Maler August von Kreling hatten „bereits in den 1840er Jahren an Entwürfen für einen derartigen Brunnen gearbeitet. Inspiriert worden waren sie dazu durch eine Mariendarstellung in Frankreich. Maria hielt hier ihre ausgestreckten Arme nach oben und von ihren Handflächen gingen Lichtstrahlen aus. Diese Lichtstrahlen sollten bei der geplanten Brunnenfigur durch Wasserstrahlen ersetzt werden.“[15] Übrigens heiratete von Kreling 1854 eine Tochter des oben erwähnten Malers Wilhelm von Kaulbach. 1867 wurde dann ein Vertrag mit einem reichen Geschäftsmann aus Cincinnati über die Herstellung der Brunnenfigur auf der Grundlage früherer Skizzen abgeschlossen, die Ferdinand von Miller dann in Bronze goß. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich der „Genius des Wassers“ ideengeschichtlich überdeterminiert. Er stellt eine Mischfigur von Maria und Natura dar (Kap. 40), eine dem irdischen Leben von oben Kraft spendende Frau. Sie agiert im Sinne des Mesmerismus: Die feinen Wasserfontainen aus den Handflächen gleichen magnetischen Handstrahlen, mit denen das „Fluidum“ übertragen wird. Aber das Besondere an diesem Brunnen war seine Qualität als ein raffiniertes technisches Kunstwerk, dass seinerzeit aus technologischen Gründen (noch) nicht in den USA hergestellt werden konnte.

Anmerkung vom 21.09.2015

Eine andere Art lebensspendender Brunnen(jung)frau zeigt der Vier-Jahreszeiten- oder Gewandbrunnen in Halle (Saale). Näheres siehe mein Supplementary News Blog

In der Mitte des 19. Jahrhunderts geriet der akademische Diskurs in einen merkwürdigen Schwebezustand: Einerseits wird die magia naturalis immer noch ernsthaft im Sinne der Naturphilosophie abgehandelt, etwa von dem „spätromantischen“ Arzt und Landschaftsmaler Carl Gustav Carus;[16] andererseits diente sie nur noch als historische Kulisse für technische Zaubertricks. So verfasste der „ordentliche Professor der Technologie an der Universität zu Tübingen” Johann Heinrich Moritz von Poppe einen „Neuen Wunder-Schauplatz der Künste“, der Aufschlüsse über die „interessantesten Erscheinungen im Gebiete der Magie, Alchymie, Chemie, Physik, Geheimnisse und Kräfte der Natur, Magnetismus, Sympathie und verwandte Wissenschaften“ geben sollte.[17] Dabei berief er sich namentlich auf „Theophrastus Paracelsus“. Die darin aufgeführten „mechanischen“ und „elektrischen Kunsstücke“ stellten im Sinne einer Gebrauchsanweisung reine Zaubertricks dar. Im Gegensatz zum bombastischen Anspruch im Buchtitel verzichtete der Autor gänzlich auf historische Bezüge und naturphilosophische Erklärungen oder Spekulationen. Es ging ihm ausschließlich um Taschenspielereien, die er mit einem marktfähigen magischen Anstrich versah.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand in Literatur, Kunst, Wissenschaft und Technik ein spannungsvolles Mischbild: „Erste“ und „zweite Natur“ begegneten sich in Form von Biedermeier und Spätromantik einerseits und Industrialisierung und Gründerzeit andererseits. Eine gewisse Wehmut über die gute alte Zeit, die am Verschwinden war, schlug sich in Literatur und Kunst nieder. Joseph von Eichendorffs Poesie traf diesen melancholischen Grundton einer Übergangszeit meisterhaft, in der die Magie der Natur von der Magie der Technik abgeöst wurde. Ein illustratives Beispiel bietet das Titelblatt eines Bildbandes über die Rheinpfalz, auf dem „Palatia, die blonde Tocher der Germania zu sehen ist. (Abb. [iii])  Es wird eingehend erklärt.[18] Palatia trägt die Kurkrone auf dem Haupt, von dem ein Schleier herabfällt, der ihre Gestalt halb umhüllt, einen Arm hat sie dem jungenhaften Bacchus über die Schulter gelegt. Vater Rhein sitzt zu ihren Füßen und treibt mit seinem Wasserstrahl offenbar Räder wie bei einer Mühle an, die mit rauchenden Industrieschloten in Verbindung gebracht werden, möglicherweise ein Hinweis auf einen Mannheimer Vorläufer der BASF in Ludwigshafen. Auf der anderen Rheinseite hebt grüßend der „kräftige Gambrinus“ seinen Bierkrug, der legendäre Erfinder des Bierbrauens, der das „Bruderland Bayern“ symbolisiert. Palatia, Bacchus, Rhein und Gambrinus sind wegen ihrer Körpergröße quasi göttliche Gestalten gegenüber den kleinen Menschen, die als Winzer, Bergleute und Händler ihren Alltagsgeschäften nachgehen. Das Zusammengehen von alter und neuer Zeit wird in einem Detail besonders deutlich: Eine Lokomotive „mit den Bergschätzen des Westrichs“ kommt mit rauchendem Schlot aus dem Tunnel gefahren, während um die Tunnelöffnung herum zwergenhafte „Berggeister“ mit Zipfelmützen sitzen, „welche durch das schnaubende Ungethüm aus der Tiefe aufgescheucht, neugierig nach dem neuen Wunder schauen.“ Bergmännlein und Lokomotive bilden hier eine harmonische Idylle, wobei die sagenhaften Elementargeister, zu denen Paracelsus die Bergmännlein zählte, freilich dem „Dampfross“ zu weichen haben.

Für Darstellungen der Palatia in der bayerischen Rheinpfalz um 1900 habe ich kürzlich zwei weitere Beispiele gefunden. Es handelt sich um eine Skulptur in Bayern und eine in München. Sie werden im Supplementary News Blog vorgestellt:

Da die Elektrizität seit ihrer ersten künstlichen Erzeugung in der Mitte des 18. Jahrhunderts als Offenbarung der verbogenen göttlichen Naturkräfte empfunden wurde, nimmt es nicht Wunder, dass sie um 1900 analog zu anderen technischen Neuerungen immer noch mit magischen Attributen versehen war: Elektrische Himmelsgöttin, elektrisch aufgeladene Paare, elektrische Blitze boten beliebte Motive in der Kunst des Jugendstils, die an frühere Darstellungen der Natura erinnern. (Abb. [iv])

Anmerkung vom 22.09.2015

Elektrische Blitze sieht man auch am Hauptpostamt Wittenberg, das Anfang der 1890er Jahre errichtet wurde — wohl in Erinnerung an Wilhelm Weber, den Entwickler des elektromagnetischen Telegrafen. Näheres im Supplementary news Blog. 

So schilderte der deutsche Militärarzt Felix Buttersack die Luftelektrizität mit magisch anmutenden Bildern: „Dieses elektrische Meer, in dem wir leben, ist ebenso gut wie die Armosphäre, die uns stets umgibt, in einer ewigen Bewegung“. Das „atmosphärische Fluidum“ bestimme Wohl und Wehe der Menschen, und durch ein Gewitter könnten allerlei Störungen in „erkrankten oder labilen Nervenapparaten“ ausgelöst werden.[19] Am Beispiel von Buttersack, der ein Vordenker der NS-Euthanaise war, haben wir bereits gesehen, wie selbstverständlich Schulmedizin und Naturheilkunde, naturmagisches und völkisches Denken, mystische und technische Einstellungen ineinander übergehen konnten (Kap. 12).


[1] Blumenberg, 1951. [2] Ebd., S. 464. [3] A. a. O., S. 466. [4] Radkau, 1994, S. 284. [5] A. a. O., S. 305. [6] A. a. O., S. 309. [7] Radkau, 1993, S. 91. [8] A. a. O., S. 93. [9] A. a. O., S. 104. [10] A. a. O., S. 106. [11] Zit. n. Manstein, 1961, S. 33. [12] Asendorf, 1984, S. 76. [13] E. Frietsch, 2006, S. 172. [14] http://de.wikipedia.org/wiki/Tyler_Davidson_Fountain (5.02.2013). [15] Ebd. [16] Carus, 1857. [17] Poppe, 1839/1982. [18] Weiss [1855], 1979 [„Erklärung des Titelbilds“]. [19] Buttersack, 1903, S. 177.

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[i] Asendorf, 1984, S. 77; → Abb. Kaulbach 1859  [ii] http://en.wikipedia.org/wiki/File:Cincinnati-fountain-genius-of-water.jpg (5.02.2013); →Abb. Tylor Davidson Fountain [iii] Carl, 1998: Frontispiz „Palatina“ [sic]; Weiss [1855], 1979; → Abb. Palatia [iv] Asendorf, 1984, S. 118; → Abb. Elektrizität um 1900