1. Kap./3 * Im Zirkelschluss der Suggestion

Dass der Placebo-Effekt von großer praktischer Bedeutung für die klinische Medizin ist, wird heute allgemein anerkannt. Gleichwohl stellten Skeptiker die Frage, ob dessen vermeintliches Ausmaß der Realität entspricht oder nur einen Mythos darstellt. So wurde behauptet, daß der Placebo-Effekt maßlos überschätzt würde. Ein kritisches Argument lautete, dass die Verum-Gruppe eines Arzneimittelversuchs nicht als Kontrollgruppe für die Placebo-Gruppe gelten könne. Aber ohne adäquate Kontrollen könne der Placebo-Effekt nicht in seinen physiologischen Auswirkungen beurteilt werden.[1] Auch die unkritische Auswahl von Studien, die den „powerful placebo“ zu belegen scheinen, wurde kritisiert. Einzelne Autoren glauben erkannt zu haben, dass der in der Arzneimittelforschung festgestellte Placebo-Effekt eine Illusion darstellt, einen Denkfehler enthält. Denn die unterschiedliche Wirkung, die sich zwischen dem Verum und dem Scheinpräparat feststellen lässt, könne nicht mit der Placebo-Wirkung gleichgesetzt werden. Es gebe auch andere Faktoren, wie den natürlichen Verlauf einer Krankheit oder Besserungen, die sich unabhänhgig von der Medikamentengabe einstellen würden. Die Placebo-Gabe entspreche einer „Therapie ut aliquid fiat“, einer Behandlung, damit etwas geschehen möge. Vom rationalen Standpunkt der wissenschaftlichen Medizin handele es sich um eine Scheintherapie.

Doch eine solche Kritik übersieht ein grundsätzliches Problem. Es besteht darin, dass jede Therapie eine ut aliquid fiat-Bedeutung hat, gleichgültig, welche Methode angewandt oder welches Präparat gegeben wird. Das Ziel von randomisierten, doppelblinden, multizentrischen Studien ist es, die vom Placebo-Effekt gewissermaßen gereinigte Wirksamkeit einer therapeutischen Maßnahme objektiv festzustellen. Wenn die Wirkung des Placebo keinen Unterschied zu der des Verum aufweist, wird üblicherweise daraus geschlossen, dass Letzteres objektiv wirkungslos sei bzw. „nur“ ein Placebo darstelle. Diese Schlussfolgerung begeht einen Denkfehler: Die Tatsache, dass eine Handlung geschieht, die sich dem Patienten oder der Versuchsperson zuwendet und sie be-handelt, hat ihre eigene Wirkung, unabhängig von Behandlungsmethode oder Präparat. Die so genannten Hawthorne-Experimente mit Industriearbeitern in den USA konnten bereits in den 1920er Jahren belegen, dass die Ergebnisse einer Studie von deren Durchführung wesentlich beeinflusst werden. Denn Versuchteilnehmer ändern unwillkürlich ihr Verhalten, wenn sie wissen, dass sie an einer Untersuchung teilnehmen.[2] Analog hierzu dürfte die Auswirkung des subjektiven Faktors in klinischen Versuchen einzuschätzen sein. So ist es gut möglich, dass eine Maßnahme ut aliquid fiat ihre objektivierbare Wirkung entfaltet, unabhängig davon, ob ein Placebo oder ein Verum verabreicht wird. Selbst wenn die Placebo-Wirkung signifikant geringer ausfällt, als die Wirkung des Verum bzw. der spezifischen Behandlungsmethode, bleibt die Frage ungeklärt, in welchem Umfang der Placebo-Effekt auch an letzterer beteiligt ist.     

Wenn wir den Placebo-Effekt auf die Wirkung von Suggestion und Autosuggestion zurückführen, so sind wir mit dem erkenntnistheoretischen Grundproblem konfrontiert, inwieweit wir die „Wahrheit“ jenseits von suggestiven Vorannahmen und ihren perspektivischen Verzerrungen, die in der Forschungsmethodologie als bias bezeichnet werden, erkennen können. Die naturwissenschaftliche Medizin stützt sich auf eine Weltanschauung, die darauf baut, dass durch Forschung alle okkulten, spekulativen und mystischen Anschauungen zugunsten der Erkenntnis der Realität überwunden werden können. An dieser Stelle ist es angebracht, einen Blick auf die frühe Suggestionslehre der so genannten Schule von Nancy (Liébeault und Bernheim) zu werfen, die trotz ihrer aufklärerischen Emphase eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem zeitgenössischen Erkenntnisoptimismus äußerte. Diese Suggestionslehre soll später ausführlicher dargelegt werden (Kap. 15). Sie entdeckte einen Mechanismus, der die Grenzen der Erkenntnis, auch der wissenschaftlichen, erstmals psychodynamisch problematisierte und den ich hier als „suggestiven Zirkel“ bezeichnen will. Dieser besteht darin, dass sich unsere sinnlichen Wahrnehmungen nicht einfach voraussetzungslos in physiologische Aktivitäten umsetzen, sondern selbst weitgehend gemäß unserer Erziehung und Gewohnheit gefiltert und gesteuert werden. Was wir wahrnehmen, hängt von dem ab, was wir als Kinder gelernt haben, uns von den Erwachsenen vorgesagt wurde. Im Sprachgebrauch jener frühen Psychotherapeuten könnte man sagen: Unsere Autosuggestionen, die selbst geronnene Fremdsuggestionen darstellen, weisen aktuellen Femdsuggestionen ihren Weg und produzieren Reaktionen, die von ersteren geformt werden. In dieser Sicht kann man die Kindererziehung als komplexes Programm posthypnotischer Aufträge begreifen, die unbewusst verankert werden und später zum Ausdruck kommen.

Der französische Internist und bahnbrechende Psychotherapeut Hippolyte Bernheim formulierte diese Problematik in aller Schärfe. In der Kindererziehung erblickte er eine „echte und rechte ‚Suggestion im Wachen’, welche häufig zu einer Alles überwältigenden Macht gelangt, wenn sie […] nicht durch ihr widersprechende Vorstellungen oder Beispiele gekreuzt wird“.[3] Selbst reife Männer könnten sich „trotz all ihrer geistigen Unabhängigkeit und Freidenkerei“ nicht von alten Vorstellungen frei machen, „weil sie ihrem Gehirn durch lange Zeit und consequent fortgesetzte Suggestion in der Jugend eingeprägt worden sind“. Er zitierte in diesem Zusammenhang seinen ärztlichen Kollegen Ambroise Liébeault, der festgestellt hatte, dass es „sociale und religiöse Grundsätze“ gebe, die von den Ahnen kommen und sich von den Eltern auf die Kinder übertragen. Obwohl sie irrational seien und dem gesunden Menschenverstand widersprächen, würden sie doch bereitwillig geglaubt und „als Eigenthum vertheidigt“. Es sei unmöglich, sie durch Vernunftgründe und gefährlich, „sie mit Gewalt vernichten zu wollen; es nützt nichts, dass man ihre Falschheit nachweist. Es giebt eben für den menschlichen Geist Ideen, […] mit denen trotz ihrer Sinnlosigkeit die Menschen verwachsen“.

Die Sozialpsychologie kennt den Begriff der self-fulfilling prophecy, der vom US-amerikanischen Soziologen Robert K. Merton geprägt wurde und dem von mir apostrophierten suggestiven Zirkel entspricht.[4] Merton stützte sich auf das so genannte Thomas-Theorem: “If men define situations as real, they are real in their consequences.” Dieses „Grundgesetz der Soziologie“ wurde bereits 1928 von dem US-amerikanischen Soziologen William Isaac Thomas aufgestellt.[5] Merton definierte die self-fulfilling prophecy dementsprechend als “a false definition of the situation evoking a new behavior which makes the originally false conception come true.”[6] Merton verwandte den Begriff ausschließlich pejorativ und demonstrierte mit ihm Bankenzusammenbrüche und bestimmte Vorurteilen der weißen protestantischen Mehrheit als herrschender in-group in den USA gegenüber der jüdischen und schwarzen Minderheit (out-groups). Was bei der herrschenden in-group als Tugend gelte, werde von ihr bei den out-groups als Laster angesehen und löse bei diesen gegenläufige Reaktionen hervor. Diese Verwandlung von Tugenden in Laster bezeichnete Merton als eine „alchemische Formel“.[7]

Doch zurück zur Placebo-Problematik. Die biomedizinische Placebo-Forschung meint, die Suggestionen bei der Gabe eines Placebo-Präparats von den eigenständigen Wirkungen eines Verum-Präparats klar unterscheiden zu können. Aber die autosuggestiv präformierte Psyche macht gerade dieser Unterscheidung einen Strich durch die Rechnung. Somit ergibt sich die Aporie eines suggestiven Zirkels: Was wir herausbekommen wollen, nämlich die objektive Wirkung eines Mittels, ist wesentlich von subjektiven und intersubjektiven Vorannahmen, gewissermaßen Autosuggestionen, tingiert und kann nicht unabhängig von ihnen gewonnen werden. Auch Sigmund Freud konnte dieses Problem bei der Erforschung des Unbewussten mit Hilfe seiner psychoanalytischen Technik nicht lösen. Er wollte die „zudeckenden“ hypnotischen und suggestiven Verfahren mit seiner „aufdeckenden“ Psychoanalyse überwinden – und verleugnete die suggestiven Momente im psychoanalytischen setting, welche die Äußerungen des „Unbewussten“ kanalisieren und formen. Es ist fragwürdig, inwieweit wissenschaftliche Forschung überhaupt dem suggestiven Zirkel entkommen kann, dessen ungeheurliche Wirksamkeit in der Wissenschaftsgeschichte offenbar wird – man denke nur an die biologische Untergangsangst („Rassenhygiene“) um 1900 oder das ökologische Katastrophenszenario („anthropogener Klimawandel“) um 2000. Kritische Placebo-Forscher fordern, am Arzt-Patienten-Verhältnis anzusetzen und das „psychosoziale Placebo“ zu erfassen, um damit die medizinische Therapie zu optimieren.[8] Doch mit dieser Aktzentverschiebung im Forschungsdesign entkommen sie keineswegs dem Zirkelschluss der Suggestion. Die Heilwirkung eines Präparats oder einer Behandlungsmethode lässt sich nicht getrennt von ihrem jeweiligen Empfänger ermitteln. Letztlich „macht“ erst der Empfänger, mehr oder weniger beeinflusst von der konkreten therepeutischen Situtation, ein Mittel zu einem, zu seinem Heilmittel.

Es ist eine Binsenweisheit, dass die Verbesserung eines Krankheitszustandes nach Gabe eines Placebo-Präparats nicht notwendigerweise von diesem verursacht sein muss. Analoges gilt von der Gabe eines Verum-Präparats. Die automatische Annahme, dass Zustandsänderungen von der jeweiligen Behandlung abhingen, ähnele eher dem „abergläubischen“ als dem „wissenschaftlichen“ Denken, meinte ein Autor. Und er fügte hinzu: Dies sei so, als ob man nachträglich eine Unglücksperiode einem zuvor zerbrochenen Spiegel zuschreibe.[9] Freilich dachte er seine interessanten Überlegungen nicht konsequent zu Ende. Er hätte dann zum Schluss kommen müssen, dass die biomedizinische Forschung in größtem Umfang (auch) einem „abergläubischen“ Denken folgt.

Die US-amerikanische Medizinsoziologin Renée C. Fox thematisierte die „wissenschaftliche Magie“ (scientific magic). In ihrer auf teilnehmender Beobachtung beruhenden Studie „Experiment Perilous“, deren Originalausgabe 1959 erschien, schilderte sie nicht-wissenschaftliche, „magische“ Einstellungen bei klinischen Forschern, die sich mit der Immunsuppression im Zusammenhang mit der Organtransplantation auseinandersetzten.[10] Sie stellte bei ihnen einen unwissenschaftlichen, utopischen Glauben an die Existenz eines zauberkugelartigen Allheilmittels und an eine zwanghaft hoffnungsvolle Prognose fest, die ihren Wunsch bestärkte, das Leben ihrer schwerkranken Patienten zu verlängern. Gerade die Onkologie sei das bevorzugte Gebiet der modernen Medizin, auf dem „wissenschaftliche Magie“ um sich greife: „Periodically, it is announced that an agent has been discovered that has the potential capacity to eliminate primary tumors, and to slow the growth and prevent the spread of metastatic tumors.”[11] Leichtsinnige Wetten unter klinischen Forschern über den Ausgang wichtiger oder gefährlicher Versuche waren für die Autorin ein weiteres Kennzeichen der “wissenschaftlichen Magie”. In diesen drücke sich die Hoffnung der Wissenschaftler aus, dass ihre Projektionen eine Brücke zu den Antworten schlagen könnten, die sie suchten.[12]


[1] Shortall, 2002, S. 91. [2] http://de.wikipedia.org/wiki/Hawthorne-Effekt (23.01.2010); Schott, 1974, S. 49-52. [3] Bernheim, 1888, S. 145. [4] Merton, 1948. [5] http://de.wikipedia.org/wiki/Thomas-Theorem (17.04.2010) [6] Merton, 1948, S. 195. [7] A. a. O., S. 207. [8] Shortall, 2002, S. 94. [9] A. a. O., S. 95. [10] Fox [1959], 1998. [11] Ebd., S. 278. [12] Fox [1976], 1998, S. 107.