11. Kap./2 * Die verschleierte Göttin

Vom Ausspruch „Zurück zur Natur!“, der Jean-Jacques Rousseau (nicht ganz zutreffend) zugeschrieben wird, bis hin zu Immanuel Kants Maxime „Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“[1] wurden im Zeitalter der Aufklärung immer wieder zwei höchste Instanzen angerufen: Natur und Vernunft. Sie erschienen als die maßgeblichen Richtgrößen für das philosophische Denken und wurden ideologisch miteinander verschmolzen. Dies lässt sich an der reichhaltigen Metaphorik vom „Tempel der Natur“ ablesen, die dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Form des naturwissenschaftlichen Laboratoriums zum „Tempel der Wissenschaft“ mutierte (Kap. 5). In diesem Tempel wurde die Natur gewissermaßen als Göttin verehrt, was auf antike Vorbilder wie Isis, Artemis, Demeter oder Diana verwies. In den „Salons“ von Denis Diderot findet sich eine interessante Zeichnung von Charles-Nicolas Cochin, das als Frontispiz für die „Enzyklopädie“ vorgesehen war. (Abb. [i]) Die durchsichtig verschleierte Frauengestalt personifiziert die Wahrheit (la Vérité). Sie ist von Lichtstrahlen umgeben, die nicht von oben kommen, sondern ihr selbst zugehören. Die Wahrheit wird hier offensichtlich mit Natura und Sophia, Natur und göttlicher Weisheit in eins gesetzt. In der Beschreibung heißt es, ins Deutsche übersetzt: „Die Vernunft und die Metaphysik versuchen, ihr [der Wahrheit] den Schleier wegzuziehen. Die Theologie erwartet ihr Licht von einem Strahl, der vom Himmel kommt; nahe bei ihr die Erinnerung (Mémoire) und die alte und neue Geschichte. Auf der anderen Seite nähert sich die Imagination mit einer Girlande, um die Wahrheit zu schmücken. Darunter befinden sich die verschiedenen Poesien (Poésies) und die Künste [foule de philosophes speculatifs] [2]. Ganz unten sind mehrere Talente (Talens), die von den Wissenschaften und Künsten abstammen [la troupe des artistes].“[3] Das Motiv der Enthüllung der Göttin als Symbol der Naturforschung trat in der bildenden Kunst in den Vordergrund und sollte im Zeitalter der Französischen Revolution eine Hochzeit erfahren. Auf die wissenschaftshistorische bzw. epistemologische Bedeutung der Enthüllungsmetaphorik sind wir bereits eingegangen (Kap. 4).

Die Inthronisierung der emanzipatorischen Vernunft im Kontext von Aufklärung, Deutschem Idealismus und Französischer Revolution ging mit einem Rekurs auf mythologische Stoffe einher, so, als habe sich die Revolution ihren eigenen Mythos auf dem Boden der alten Mythologie schaffen wollen. Der griechische Schriftsteller Plutarch zitierte bekanntlich die Inschrift „[…] noch kein Sterblicher hat jemals mein Gewand gelüftet“ am „Thronsitz der Athene in Sais, die man auch für die Isis hält“.[4] Nach der Überlieferung des Neuplatonikers Proklos umfasste die Inschrift noch eine weitere Aussage: „[…] mein Gewand hat noch niemand gelüftet. Die Frucht, die ich gebar, wurde die Sonne“.[5] Die auch als „Jungfrau“ bezeichnete Göttin habe keinen Geschlechtsverkehr gehabt und die Sonne aus sich allein geboren.[6] Eine gewisse Analogie zur Heiligen Jungfrau und Gottesmutter Maria ist nicht zu übersehen (Kap. 39).

Der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp untersuchte dieses Enthüllungsmotiv im Rahmen seiner grundlegenden ikonographischen Studie zur Geschichte der Natur-Allegorie. Demnach erwähnte erstmals Plutarch die Entschleierung der Isis und sprach vom „Thronsitz der Athene in Sais“.[7] Diese Legende diente vor allem um 1800 als Vorbild für den Topos von der Entschleierung der „Wahrheit“ durch die (Natur)Wissenschaft.[8] Neben anderen nahm auch Kant zum Isis-Natura-Motiv Stellung.[9] Er bezog sich in der „Kritik der Urteilskraft“ dabei auf die Vignette in Segners „Einleitung in die Naturlehre“. (Abb. [ii]) Die betreffende Fußnote von Kant lautet: „Vielleicht ist nie etwas Erhabneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden, als in jener Aufschrift über dem Tempel der Isis (der Mutter Natur): ‚Ich bin alles was da ist, was da war, und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt’. Segner benutzte diese Idee, durch eine sinnreiche seiner Naturlehre vorgesetzte Vignette, um seinen Lehrling, den er in diesen Tempel zu führen bereit war, vorher mit dem heiligen Schauer zu erfüllen, der das Gemüt zu feierlicher Aufmerksamkeit stimmen soll.“[10] Die Illustration zeigt, wie die in einen Mantel mit den Symbolen der vier Elemente eingehüllte Isis, auf dem Haupt eine Sternenkrone, in der Hand eine Leier (Lyra), vor einem antiken, halb verfallenen Monument dahinschreitet.[11] Drei puttenartig gestaltete Forscher sind zu sehen, einer davon versucht listig, einen Zipfel des Gewandes der Göttin, emporzuheben − soweit es erlaubt ist, wie die Unterschrift „Qua licet“ andeutet.

Anmerkung vom 12.11.2014

Das Motiv der verschleierten Frau taucht auch in der Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts auf. Ein Gemälde von Joseph Stella von 1925/26 ist hier besonders eindrucksvoll. Näheres siehe meinen Supplementary News Blog:

Anmerkung zu 11. Kap./2 * (Die verschleierte Göttin) — Der durchsichtige Schleier der göttlichen Frau

Dieses Motiv tauchte aber auch schon früher in der wissenschaftlichen Literatur der Neuzeit auf, erstmals nach Kemp im Frontispiz zu einem Werk über vergleichende Tieranatomie aus dem Jahr 1681, das freilich keine Legende aufweist (Abb. [iii]). Kemp meinte hierzu: „Dort entschleiert die Allgorie der Natur den Augen des Betrachters die vielbrüstige, mit Geier und Szepter als Attributen ausgerüstete Gestalt der Natura.“[12] Es sei dahin gestellt, ob man den Akt auch als eine Art Selbstentschleierung der Natur dueten könnte. Jedenfalls sind zwei Frauengestalten zu sehen: Die eine, vielbrüstige Frau erscheint als Standbild, die den Makrokosmos darstellt; auf ihr sind Planetensymbole, in der Mitte die Sonne und unten die Mondsichel eingezeichnet. Die andere, enthüllende Frau hält in der einen Hand eine Lupe, in der anderen ein Skalpell, auf dem Kopf trägt sie ein rauchendes Weihrauchgefäß. Man kann sie wohl als die Personifikation von Ars, von Kunst und Wissenschaft, ansehen. Es blieb freilich der Französischen Revolution vorbehalten, die Entschleierung der Göttin in einem öffentlichen Kult der Vernunft (Raison) zu inszenieren. Beim berühmten Verfassungsfest, dem „Fest der Vernunft“ wurde am 10. August 1793 „eine als Raison ausgegebene Frau entschleiert […]. Die Provinz folgte bald dem Pariser Vorbild. In Chartres wurde zur Einweihung der Kathedrale als Tempel der Vernunft an Stelle des Hochaltars ein künstlicher Berg errichtet.“[13] Diesen krönte auf der Spitze eine Allegorie der Natur.

Der Maler Jacques-Louis David, ein begeisterter Anhänger der Französischen Revolution, entwarf für den Brunnen „Fontaine de la Régénération“, der auf den Trümmern der Bastille errichtet worden war, die monumentale Statue La Nature“. Sie saß auf einem erhöhten Thron und erinnerte mit ihrem Kopfputz an Isis.[14] Die Inschrift auf dem Sockel lautete: „Nous sommes tous ses enfants.“ Die Statue wurde beim oben erwähnten Fest eingeweiht (Abb. [iv]). Vertreter der Departements tranken in einem Zeremoniell aus einem Pokal, der mit dem Wasser aus den Brüsten der Statue gefüllt war, wobei jeder eine Ansprache hielt. Ein Redner sprach von den „heiligen Quellen“ (sources sacrées), aus denen das Wasser der geistigen Wiedergeburt fließe.[15] Dies hatte hohen symbolischen Wert: Die Menschen sollten sich wieder wie Kinder der Mutter Natur zuwenden und zum harmonischen Zustand des ordre naturel zurückfinden.[16] Das Fünf-Décime-Stück mit der Darstellung des Brunnens von David wurde am 31. Dezember 1793 ausgegeben und hatte das Motto auf dem Revers: „Régéneration Française“.[17]

Die Ägyptenfaszination um 1800 war wohl im nachrevolutionären Frankreich, stimuliert durch den napoleonischen Ägyptenfeldzug (1798-1802), besonders stark.[18] Es ging nun auch in kolonialpolitischer Hinsicht um eine Entschleierung, wie die Medaille „Gallia Victrice Aegyptus Rediviva. 1798“ von Jean-Jacques Barré aus dem Jahr 1826 erkennen lässt: Der militärische Genius Frankreichs in Gestalt eines gallischen Kriegers lüftet den Schleier der vor ihm liegenden Isis als Allegorie Ägyptens. Jan Assmann zeigte in seinem Buch über die „Zauberflöte“, wie sehr die Intellektuellen in jener Epoche vom alten Ägypten fasziniert waren.[19] Dies betraf insbesondere die Freimaurerbewegung des 18. Jahrhunderts. So legten wohlhabendere Freimaurer „hieroglyphische Gärten“ mit „hermetischen Grotten“ an.[20] Georg Forster schilderte ehrfürchtig seinen Besuch der Grotte im Garten des Grafen Johann Philipp Cobenzl auf dem Reisenberg bei Wien: „Eine Grotte, bei deren Eintritt heilige Schauer uns ergreifen, ganze Adern von Erz, von Edelstein und Kristallisationen in ihren Wänden“.[21] Die ägyptische Göttin Isis erschien in dieser  Gartenkunst als Dea Natura schlechtin: „In der Mythologie und Ikonologie der Zeit galt Isis als die Göttin der Natur und wurde im Bildtypus der Diana von Ephesos als multimammia, ‚vielbrüstig’, dargestellt. […] Auch im Neuen Garten in Potsdam steht eine Isis im Bildtypus der Diana multimammia auf einer Lichtung im Wald.“[22]  Isis galt auch „als eine Dea Panthea, eine allumfassende, alle Götter und alles Göttliche in sich einbegreifende Gottheit.“[23] Isis als die „All-Eine“ und „Verborgene“ habe sich in der Natur offenbart, „die sie verhüllte.“[24] So meinte der aufklärerische Philosoph Carl Leonhard Reinhold, Mitglied der Wiener Loge „Zur Wahren Eintracht“, die Selbstoffenbarung der Isis auf der Sockelinschrift entspreche der Offenbarung Gottes an Mose: Mose habe nichts anderes versucht, „als den Hebräern die Gottheit, die er in den ägyptischen Mysterien kennengelernt hat, in einer ihnen faßbaren Begrifflichkeit näherzubringen.“[25]

Mit der Isis-Thematik war das Verhältnis von Natur und Wissenschaft angesprochen, vor allem die Frage nach der richtigen und zulässigen Art und Weise, wie die Wissenschaft mit der Natur umzugehen habe. Der politische Schriftsteller Joseph Görres, der zunächst mit der Französischen Revolution sympathisierte, meinte 1805, dass sich Wissenschaft und Kunst „[w]ie zwey Geschlechter“ einander gegenüberträten: „in holdem Liebreiz steht die Eine wie ein Bild der sanften Jungfrau da, verschleiert ihr Angesicht, ihr zarter Leib von dem Gewand verhüllt, […] die ganze Weiblichkeit ein reitzendes Geheimniß, von der zarten, schüchternen Schaam bewahrt, durch die Schönheit angedeutet, in der Liebe ausgesprochen, aber seine Räthsel nimmer, nimmer ganz gelöst. […] Festen Schritts tritt dagegen das Wissen auf, keck schaut das freye Auge um sich herum, drotzig bricht der Geist die Schranken durch, das Festeste muß in dem Brennpunkt seiner Strahlen sich verflüchtigen, […] Gewalt muß alle Räthsel lösen, jeder Schleier wird zerrissen, wo gewaltsam seine Energie gebietet“.[26] Die Natur ist nach Görres weiblich − wie die Kunst und Einbildungskraft. „Denn Liebe ist das innerste Geheimnis der Weiblichkeit, verborgen in ihrer Mitte ruht der Schwerpunkt der Geisterwelt, und alle ihre Elemente bindet dieser Punkt mit stiller Neigung aneinandander, und lenkt sie mit unwiderstehlichem Zug in seine unergründlichen Tiefen hin. Und die Liebe bedarf der Wahrheit nicht, daß sie ihr mit ihrem Strahle leuchte, Psyches Lampe macht den Amor flüchten“.[27] Für ihn war „die Wissenschaft wie die Vernunft […] von der Natur des Männlichen“. Vorrang hatte „dieser freye Geistesblick, der die Gegenstände durch sein Sehen selbst beleuchtet“.[28]


[1] Kant, 1784, S. 481. [2] A. a. O., S. 231. [3] A. a. O., S. 51. [4] Plutarch, 1941, S. 8. [5] Zit. a. a. O., S. 83 [Kommentar]. [6] A. a. O., S. 84 [Kommentar]. [7] Plutarch [1941], S. 7 f. (De Iside et Osiride, 9). [8] Kemp, 1973, S. 164.[9] A. a. O., S. 165. [10] Kant [1790], 1913, S. 316 (§49). [11] Goesch, 1995, S. 221. [12] Zit. n. Goesch, 1995, S. 164. [13] Kemp, 1973, S. 169. [14] Goesch. 1995, S. 195. [15] A. a. O., S. 196. [16] Kemp, 1973, S. 173. [17] A. a. O., S. 171. [18] Utz, 2012, S. 59. [19] Assmann, 2005. [20] Ebd., S. 106-121. [21] Zit. ebd., S. 109. [22] A. a. O., S. 116. [23] A. a. O., S. 117. [24] A. a. O., S. 118. [25] Zit. a. a. O., S. 119. [26] Görres, 1805 [a], S. 95. [27] Görres, 1805 [a], S. 90. [28] A. a. O., S. 88.


[i] Diderot [1765], 1960, Tafel 97; → Abb. Diderot 1960 [ii] Segner, 1770: Titelblatt; → Abb. Segner 1770 [iii] Blasius, 1681: Frontispiz; → Abb. Blasius 1681 Frontispiz [iv] Goesch, 1995, S. 348; → Abb. Fontaine 1793

10. Kap. 4 * Frau Natur im Jugendstil [+ Audio Podcast]

Magic of Nature Lecture 10 K 4:

Der von mir gelesene Text als Audio Podcast zum Herunterladen.

Der Jugendstil spiegelte wie keine andere Kunstform das Empfinden der Lebensreformbewegung wider, was bereits am Beispiel von Fidus angedeutet wurde (siehe oben) . Im Folgenden soll dies an weiteren Beispielen veranschaulicht werden. Die Motive der Natura treten im Werk des Malers und Utopisten Heinrich Vogeler deutlich hervor. Auf dem 1905 in Worpswede geschaffenen Gemälde „Sommerabend“ sieht man ein Konzert im Garten, rechts die Musizierenden, links das Auditorium. (Abb. [i]) Martha Vogeler steht fast überlebensgroß erscheinend im Zentrum an der Gartenpforte und hält einen Windhund an der Leine, der auf der Treppe sitzt. Die mit Blumen umkränzte Laube lässt an einen Paradiesgarten denken, dessen Eingang eine Frau mit Attributen der Natura bewacht. Vogelers Farblithographie zu Gerhard Hauptmanns „Die versunkene Glocke“ zeigt den aus einer Seenlandschaft aufragenden Oberkörper einer jungen Frau, die ihre rechte Hand auf den Boden gelegt hat. (Abb. [ii]) Sie scheint mit dem Erdboden verwachsen − eine Verkörperung der erdgebundenen Natur, die nicht als Medium göttlicher Weisheit erscheint. In Hauptmanns „deutschem Märchendrama“ spielt sie die Rolle der Elfe „Rautendelein“, eines Elementar- oder Naturgeistes in Frauengestalt, die  den Glockengießer Heinrich verzaubert. Ähnlich erdgebunden mutet die Frau auf den Postkarten von Hans Christiansen an. (Abb.[iii]) Die Lithographien zeigen ihren von Rosen umgebenen Kopf mit langen, dicken Haarsträhnen, die wie Wurzeln tief ins Erdreich vordringen. Es existieren mehrere Varianten zu diesem Motiv. Handelt es sich um eine Wassernymphe, die aufgetaucht ist? Oder um eine Erdhexe, wozu das rötliche lange Haar passen würde? Weiterführende Literatur existiert offenbar nicht.[1] Ganz anders imponiert die junge Frau auf dem Ölgemälde „Träume II“ (1902) von Heinrich Vogeler. (Abb. [iv]) Hier begegnet uns quasi die Göttin Natura in Person. Sie sitzt vor einer Blütensonne, die ihren Körper wie ein großer Heiligenschein umgibt, und blickt aufmerksam in den Himmel. Ihr rechter Arm weist auf den mit Gänseblümchen bewachsenen Erdboden, als würde sie himmlische Kräfte dorthin ableiten. Dem Gänseblümchen, volkstümlich auch als „Tausendschön“ oder Maßliebchen bezeichnet, schrieb man wie anderen Frühlingsblumen traditionell besondere Heilkraft zu und verwandte es bei magisch-sympathetischen Kuren.[2] Zudem fällt das durchsichtige Gewand auf, das den Frauenkörper ebenso verhüllt wie sichtbar macht. Der Hinterkopf ist durch Haarzöpfe wie von einer Krone umgeben.

Im Folgenden möchte ich eine Reihe von Abbildungen präsentieren, die dem Katalog der Ausstellung „Jugendstil am Oberrhein“ entnommen sind, die im Badische Landesmuseum Karlsruhe 2009 zu sehen war.[3] Die Bilder zeigen Frauengestalten, die an das Motiv der Natura erinnern und zum Teil fließende Übergänge zu Marienbildern aufweisen. Auf die literarische und ikonographische Verschmelzung von Natura und Maria in ausgehendem Mittelalter und früher Neuzeit werden wir ausführlich eingehen (Kap. 36-42). Die Bildnisse des Jugendstil sind hierzu eine gute Einführung. Das Plakat zur „Basler Elektrizitätsausstellung für Haushalt und Gewerbe“ von 1913, eine Lithographie von Albrecht Mayer, zeigt eine nackte Frau, die einen große leuchtenden Reifen hält, von dem elektrischen Funken in den Nachthimmel ausstrahlen. (Abb. [v]) Frau und Leuchtkreis haben zusammen die Konfiguration einer Glühbirne. Das Plakat zeigt sehr schön, wie moderne Technik und naturphilosophische Symbolik gerade im Jugenstil zusammengingen. Aber auch außerhalb der Kunst war dies bei Illustrationen in technischen Sachbüchern im späten 19. Jahrhundert der Fall (Kapl. 14).[4] Die Illustrierte Elsässische Rundschau zeigte auf dem  Titelblatt (Nummer 1, 1898) eine stattliche Frau in Landestracht. (Abb. [vi]) Sie steht zwischen zwei Weinstöcken, die sich über ihr zu einem halbkreisförmigen Dach mit Weinlaub und Weintrauben vereinigen. Ihr Kopf, von einer Gloriole umgeben, befindet sich im Zentrum des überwölbten Raumes. Ihre Hand greift nach einer Traube. Offenbar ist die Zeit der Weinernte gekommen.

Anmerkung vom 17.11.2014:

Die mythische Figur der römischen Ceres oder griechischen Demeter, der Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit, verkörperte in der Kunst vielfach die Natur. Ein Beispiel stellt die 1928 geschaffene Skulptur „Ceres“ von John Bradley Storrs dar. 

Näheres siehe Supplementary News:

Anmerkung zu 10. Kap. 4 * (Frau Natur im Jugendstil) — Die Göttin Ceres im 20. Jahrhundert

Das Gemälde „Die Frau mit Iris“ von Jean-Jaques Waltz („Hansi“) von 1900 zeigt das im Jugenstil beliebte Motiv der femme fleur.[5] (Abb. [vii]) Iris war in der griechischen Mythologie eine Gottheit, die den Regenbogen personifizierte und als Götterbotin fungierte.[6] Als „Schwertlilie“ (Gladiole) symbolisierte die Iris im Mittelalter tugenhafte Standfestigkeit. In der frühen Neuzeit war die Pflanze, die seit dem Altertum zum Arzneimittelschatz gehört, in europäischen Apotheken üblich.[7] In Volkskunde und Volksmedizin diente die Iris als Mitteldes Abwehrzaubers (Apotropaeum), etwa als Amulett gegen Verwundungen. Das Bild ist also durchaus von der „Magie der Natur“ imprägniert.  Die Kunstverglasung „Dame mit der Taube“ von Emil Großkopf, geschaffen 1902, zeigt die Rückenansicht einer Frau mit langem grünem Gewand mit einer stilisierten Taube über der rechten Schulter. (Abb. [viii]) Sie trägt einen perlenkettenartigen Kopfschmuck, der eine Krone andeutet. Die Taube gilt als tradtionelles Symbol des Heiligen Geistes. Grün gilt in der Ideengeschichte als Farbe der lebendigen Natur. So pries Hildegard von Bingen die „Grünkraft“ (viriditas) als die lebendige Kraft in allen Naturdingen.[8] Mit anderen Wort: Wir haben es hier zumindest andeutungsweise mit einer Darstellung der Natura zu tun. Die stehende Frau mit Palette auf dem Plakat „Kunstausstellung Heidelberg“ (1903) von Hellmut Eichrodt kann als „Personifikation der Kunst“ gedeutet werden.[9] (Abb. [ix]) Sie steht vor einer Silhouette des Heidelberger Schlosses, in festlichem Gewand mit kreisrunden Zweigen als Dekor, das Gesicht andächtig nach oben gerichtet. Sie lässt an die Künstlerin Natur denken, die im Lichte göttlicher Weisheit die Natur zeichnet und ihnen ihre Signaturen verleiht (Kap. 33).

Das Titelblatt des Firmenkatalogs „Pforzheimer Besteck- und Silberwaren-Fabrik“ von 1904 zeigt eine Frau, die einen Silberpokal vor einer Berglandschaft mit Fluss in die Höhe hält. (Abb. [x]) Sie erscheint, umrankt von Weinreben und mit Ohr- und Halsschmuck im Glanz der aufgehenden Sonne, als eine Mischung von Natur und Kunst. Wenn hier die Schmiedekunst angepriesen wird, so auf der Lithographie einer Mannheimer Buchdruckerei die Druckerkunst, personifiziert durch eine blühend aussehende Frau mit einem riesigen Federkiel in ihrer rechten Hand. (Abb. [xi]) Die Graphik „Frühlingslied“ von Franz Hein, entstanden vor 1904, zeigt eine nackte Frau mit langem Haar, die auf einer Harfe spielend und dazu singend durch eine Frühlingslandschaft mit blühenden Bäumen (Kirschblüte?) schreitet. (Abb. [xii]) In der Legende des Ausstellungskatalogs wird die Nacktheit als Zeichen der „Wärme der Jahreszeit“ gedeutet und auf die Freikörperkultur in der zeitegnössischen Lebensreformbewegung verwiesen.[10] Das Bild ist allerdings überdeterminiert. Man kann in der Frau auch die Personifikation einer Naturgöttin oder einer der Musen, der Schutzgöttinnen der Künste, sehen, deren Attribut ebenfalls ein Zupfinstrument, nämlich die Leier (Lyra), war. Als Kontrastbild hierzu erscheint die verschleierte und gekrönte Isis-Natura auf dem Titelblatt von Johann Andreas von Segners „Einleitung in die Naturlehre“, die eine Kithara hält (Kap. 11). Ihr Gewandt muss noch vorsichtig gelüftet werden, während Heins Muse mit dem „Frühlingslied“ auf den Lippen sich selbst schon gänzlich entblößt hat.


[1] Künstlerkolonie […], 2001, S. 441. [2] Marzell, 1932/1933. [3] Jugendstil […], 2009. [4] Zöllner, 1877. [5] Jugenstil […], 2009, S. 46. [6] http://de.wikipedia.org/wiki/Iris_%28Mythologie%29 (29.07.2012) [7] W. Schneider, 1985, S. 111. [8] http://de.wikipedia.org/wiki/Viriditas (9.08.2012) [9] Jugenstil […], 2009, S. 121. [10] Jugenstil […], 2009, S. 296.


[i] Künstlerkolonien […], 2001, S. 282; → Abb. Vogeler Sommerabend  [ii] Künstlerkolonien […], 2001, S. 414; → Abb. Vogeler versunkene Glocke [iii] Künstlerkolonien […], 2001, S. 441; Postkarten (1901); → Abb. Christiansen Postkarten [iv] Künstlerkolonien […], 2001, S. 421; → Abb. Vogeler Träume II [v] Jugendstil […], 2009, S. 21: Abb. 12; → Abb. Jugendstil 25  [vi] Jugendstil […], 2009, S. 35: Abb. 17; → Abb. Jugendstil 35 [vii] Jugendstil […], 2009, S. 46: Abb. 24; → Abb. Jugendstil 46 [viii] Jugendstil […], 2009, S. 79: Abb. 47; http://suite101.de/view_image.cfm/359183 (9.08.2012); → Abb. Dame mit Taube [ix] Jugendstil […], 2009, S. 121: Abb. 78; → Abb. Kunstausstellung Heidelberg [x] Jugendstil […], 2009, S. 265: Abb. 245; → Abb. Firmenkatalog [xi] Jugendstil […], 2009, S. 304: Abb. 309; → Abb. Buchdruckerei [xii] Jugendstil […], 2009, S. 296: Abb. 296; → Abb. Frühlingslied