10. Kap. 4 * Frau Natur im Jugendstil [+ Audio Podcast]

Magic of Nature Lecture 10 K 4:

Der von mir gelesene Text als Audio Podcast zum Herunterladen.

Der Jugendstil spiegelte wie keine andere Kunstform das Empfinden der Lebensreformbewegung wider, was bereits am Beispiel von Fidus angedeutet wurde (siehe oben) . Im Folgenden soll dies an weiteren Beispielen veranschaulicht werden. Die Motive der Natura treten im Werk des Malers und Utopisten Heinrich Vogeler deutlich hervor. Auf dem 1905 in Worpswede geschaffenen Gemälde „Sommerabend“ sieht man ein Konzert im Garten, rechts die Musizierenden, links das Auditorium. (Abb. [i]) Martha Vogeler steht fast überlebensgroß erscheinend im Zentrum an der Gartenpforte und hält einen Windhund an der Leine, der auf der Treppe sitzt. Die mit Blumen umkränzte Laube lässt an einen Paradiesgarten denken, dessen Eingang eine Frau mit Attributen der Natura bewacht. Vogelers Farblithographie zu Gerhard Hauptmanns „Die versunkene Glocke“ zeigt den aus einer Seenlandschaft aufragenden Oberkörper einer jungen Frau, die ihre rechte Hand auf den Boden gelegt hat. (Abb. [ii]) Sie scheint mit dem Erdboden verwachsen − eine Verkörperung der erdgebundenen Natur, die nicht als Medium göttlicher Weisheit erscheint. In Hauptmanns „deutschem Märchendrama“ spielt sie die Rolle der Elfe „Rautendelein“, eines Elementar- oder Naturgeistes in Frauengestalt, die  den Glockengießer Heinrich verzaubert. Ähnlich erdgebunden mutet die Frau auf den Postkarten von Hans Christiansen an. (Abb.[iii]) Die Lithographien zeigen ihren von Rosen umgebenen Kopf mit langen, dicken Haarsträhnen, die wie Wurzeln tief ins Erdreich vordringen. Es existieren mehrere Varianten zu diesem Motiv. Handelt es sich um eine Wassernymphe, die aufgetaucht ist? Oder um eine Erdhexe, wozu das rötliche lange Haar passen würde? Weiterführende Literatur existiert offenbar nicht.[1] Ganz anders imponiert die junge Frau auf dem Ölgemälde „Träume II“ (1902) von Heinrich Vogeler. (Abb. [iv]) Hier begegnet uns quasi die Göttin Natura in Person. Sie sitzt vor einer Blütensonne, die ihren Körper wie ein großer Heiligenschein umgibt, und blickt aufmerksam in den Himmel. Ihr rechter Arm weist auf den mit Gänseblümchen bewachsenen Erdboden, als würde sie himmlische Kräfte dorthin ableiten. Dem Gänseblümchen, volkstümlich auch als „Tausendschön“ oder Maßliebchen bezeichnet, schrieb man wie anderen Frühlingsblumen traditionell besondere Heilkraft zu und verwandte es bei magisch-sympathetischen Kuren.[2] Zudem fällt das durchsichtige Gewand auf, das den Frauenkörper ebenso verhüllt wie sichtbar macht. Der Hinterkopf ist durch Haarzöpfe wie von einer Krone umgeben.

Im Folgenden möchte ich eine Reihe von Abbildungen präsentieren, die dem Katalog der Ausstellung „Jugendstil am Oberrhein“ entnommen sind, die im Badische Landesmuseum Karlsruhe 2009 zu sehen war.[3] Die Bilder zeigen Frauengestalten, die an das Motiv der Natura erinnern und zum Teil fließende Übergänge zu Marienbildern aufweisen. Auf die literarische und ikonographische Verschmelzung von Natura und Maria in ausgehendem Mittelalter und früher Neuzeit werden wir ausführlich eingehen (Kap. 36-42). Die Bildnisse des Jugendstil sind hierzu eine gute Einführung. Das Plakat zur „Basler Elektrizitätsausstellung für Haushalt und Gewerbe“ von 1913, eine Lithographie von Albrecht Mayer, zeigt eine nackte Frau, die einen große leuchtenden Reifen hält, von dem elektrischen Funken in den Nachthimmel ausstrahlen. (Abb. [v]) Frau und Leuchtkreis haben zusammen die Konfiguration einer Glühbirne. Das Plakat zeigt sehr schön, wie moderne Technik und naturphilosophische Symbolik gerade im Jugenstil zusammengingen. Aber auch außerhalb der Kunst war dies bei Illustrationen in technischen Sachbüchern im späten 19. Jahrhundert der Fall (Kapl. 14).[4] Die Illustrierte Elsässische Rundschau zeigte auf dem  Titelblatt (Nummer 1, 1898) eine stattliche Frau in Landestracht. (Abb. [vi]) Sie steht zwischen zwei Weinstöcken, die sich über ihr zu einem halbkreisförmigen Dach mit Weinlaub und Weintrauben vereinigen. Ihr Kopf, von einer Gloriole umgeben, befindet sich im Zentrum des überwölbten Raumes. Ihre Hand greift nach einer Traube. Offenbar ist die Zeit der Weinernte gekommen.

Anmerkung vom 17.11.2014:

Die mythische Figur der römischen Ceres oder griechischen Demeter, der Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit, verkörperte in der Kunst vielfach die Natur. Ein Beispiel stellt die 1928 geschaffene Skulptur „Ceres“ von John Bradley Storrs dar. 

Näheres siehe Supplementary News:

Anmerkung zu 10. Kap. 4 * (Frau Natur im Jugendstil) — Die Göttin Ceres im 20. Jahrhundert

Das Gemälde „Die Frau mit Iris“ von Jean-Jaques Waltz („Hansi“) von 1900 zeigt das im Jugenstil beliebte Motiv der femme fleur.[5] (Abb. [vii]) Iris war in der griechischen Mythologie eine Gottheit, die den Regenbogen personifizierte und als Götterbotin fungierte.[6] Als „Schwertlilie“ (Gladiole) symbolisierte die Iris im Mittelalter tugenhafte Standfestigkeit. In der frühen Neuzeit war die Pflanze, die seit dem Altertum zum Arzneimittelschatz gehört, in europäischen Apotheken üblich.[7] In Volkskunde und Volksmedizin diente die Iris als Mitteldes Abwehrzaubers (Apotropaeum), etwa als Amulett gegen Verwundungen. Das Bild ist also durchaus von der „Magie der Natur“ imprägniert.  Die Kunstverglasung „Dame mit der Taube“ von Emil Großkopf, geschaffen 1902, zeigt die Rückenansicht einer Frau mit langem grünem Gewand mit einer stilisierten Taube über der rechten Schulter. (Abb. [viii]) Sie trägt einen perlenkettenartigen Kopfschmuck, der eine Krone andeutet. Die Taube gilt als tradtionelles Symbol des Heiligen Geistes. Grün gilt in der Ideengeschichte als Farbe der lebendigen Natur. So pries Hildegard von Bingen die „Grünkraft“ (viriditas) als die lebendige Kraft in allen Naturdingen.[8] Mit anderen Wort: Wir haben es hier zumindest andeutungsweise mit einer Darstellung der Natura zu tun. Die stehende Frau mit Palette auf dem Plakat „Kunstausstellung Heidelberg“ (1903) von Hellmut Eichrodt kann als „Personifikation der Kunst“ gedeutet werden.[9] (Abb. [ix]) Sie steht vor einer Silhouette des Heidelberger Schlosses, in festlichem Gewand mit kreisrunden Zweigen als Dekor, das Gesicht andächtig nach oben gerichtet. Sie lässt an die Künstlerin Natur denken, die im Lichte göttlicher Weisheit die Natur zeichnet und ihnen ihre Signaturen verleiht (Kap. 33).

Das Titelblatt des Firmenkatalogs „Pforzheimer Besteck- und Silberwaren-Fabrik“ von 1904 zeigt eine Frau, die einen Silberpokal vor einer Berglandschaft mit Fluss in die Höhe hält. (Abb. [x]) Sie erscheint, umrankt von Weinreben und mit Ohr- und Halsschmuck im Glanz der aufgehenden Sonne, als eine Mischung von Natur und Kunst. Wenn hier die Schmiedekunst angepriesen wird, so auf der Lithographie einer Mannheimer Buchdruckerei die Druckerkunst, personifiziert durch eine blühend aussehende Frau mit einem riesigen Federkiel in ihrer rechten Hand. (Abb. [xi]) Die Graphik „Frühlingslied“ von Franz Hein, entstanden vor 1904, zeigt eine nackte Frau mit langem Haar, die auf einer Harfe spielend und dazu singend durch eine Frühlingslandschaft mit blühenden Bäumen (Kirschblüte?) schreitet. (Abb. [xii]) In der Legende des Ausstellungskatalogs wird die Nacktheit als Zeichen der „Wärme der Jahreszeit“ gedeutet und auf die Freikörperkultur in der zeitegnössischen Lebensreformbewegung verwiesen.[10] Das Bild ist allerdings überdeterminiert. Man kann in der Frau auch die Personifikation einer Naturgöttin oder einer der Musen, der Schutzgöttinnen der Künste, sehen, deren Attribut ebenfalls ein Zupfinstrument, nämlich die Leier (Lyra), war. Als Kontrastbild hierzu erscheint die verschleierte und gekrönte Isis-Natura auf dem Titelblatt von Johann Andreas von Segners „Einleitung in die Naturlehre“, die eine Kithara hält (Kap. 11). Ihr Gewandt muss noch vorsichtig gelüftet werden, während Heins Muse mit dem „Frühlingslied“ auf den Lippen sich selbst schon gänzlich entblößt hat.


[1] Künstlerkolonie […], 2001, S. 441. [2] Marzell, 1932/1933. [3] Jugendstil […], 2009. [4] Zöllner, 1877. [5] Jugenstil […], 2009, S. 46. [6] http://de.wikipedia.org/wiki/Iris_%28Mythologie%29 (29.07.2012) [7] W. Schneider, 1985, S. 111. [8] http://de.wikipedia.org/wiki/Viriditas (9.08.2012) [9] Jugenstil […], 2009, S. 121. [10] Jugenstil […], 2009, S. 296.


[i] Künstlerkolonien […], 2001, S. 282; → Abb. Vogeler Sommerabend  [ii] Künstlerkolonien […], 2001, S. 414; → Abb. Vogeler versunkene Glocke [iii] Künstlerkolonien […], 2001, S. 441; Postkarten (1901); → Abb. Christiansen Postkarten [iv] Künstlerkolonien […], 2001, S. 421; → Abb. Vogeler Träume II [v] Jugendstil […], 2009, S. 21: Abb. 12; → Abb. Jugendstil 25  [vi] Jugendstil […], 2009, S. 35: Abb. 17; → Abb. Jugendstil 35 [vii] Jugendstil […], 2009, S. 46: Abb. 24; → Abb. Jugendstil 46 [viii] Jugendstil […], 2009, S. 79: Abb. 47; http://suite101.de/view_image.cfm/359183 (9.08.2012); → Abb. Dame mit Taube [ix] Jugendstil […], 2009, S. 121: Abb. 78; → Abb. Kunstausstellung Heidelberg [x] Jugendstil […], 2009, S. 265: Abb. 245; → Abb. Firmenkatalog [xi] Jugendstil […], 2009, S. 304: Abb. 309; → Abb. Buchdruckerei [xii] Jugendstil […], 2009, S. 296: Abb. 296; → Abb. Frühlingslied

10. Kap./2 * Sichtbare und unsichtbare Strahlen

Die Werbung bediente sich der soeben genannten Motive ausgiebig zu Reklamezwecken. Sehr eindrucksvoll ist das Werbeplakat für die „Steckenpferd Lilienmilch-Seife“ um 1900. (Abb. [i]) Die aufgehende Sonne, die mit ihrer Inschrift die Seifenproduzenten als Quelle des himmlischen Lichts identifiziert, verschönt auch den Teint der am Meeresufer sitzenden Jungfrau, die an Darstellungen der Venus oder Natura erinnert. Ihr mit Juwelen besetzter Haarreif unterstreicht ihre königliche Würde. Mit ähnlichem Motiv wurde auch für das populäre Mundwasser Odol geworben. Theodor Lingner, der erfolgreiche Produzent des Antiseptikums, Initiator der „hygienischen Volksbelehrung“ sowie der Ersten Hygiene-Ausstellung in Dresden 1911, war stark von lebensreformerischen Impulsen motiviert.[1] Odol schien direkt auf die aufgehende Sonne hinzuführen, auf ein neues, lichtes Zeitalter. (Abb. [ii]) Eine Straße führt direkt auf die Sonne zu, die Riesenbuchstaben ODOL markieren gleichsam die Grenze zur hygienischen Transzendenz, zum Himmel der Reinheit. Weitere Werbeanzeigen lassen Odol als Lichtquelle erscheinen, in deren Glanz sich Frauengestalten sonnen: Auf der Anzeige von 1914 tanzt eine Frau vor der übergroßen Sonne, auf der von 1906 erscheint der Odol-Behälter als Lichtquelle, der von unten ihr Gesicht bestrahlt und sie wie ein Medium des Okkultismus erscheinen lässt, der damals die experimentelle Parapsychologie beschäftigte. (Abb. [iii])

Am Fin de Siècle wurden nicht nur naturheilkundliche und lebensreformerische Themen gerne mit Darstellungen der strahlenden Sonne und einer unverdorbenen Natur illustriert, sondern auch wissenschaftlich-technische Innovationen. So zeigte das Buch des Chemikers und Nobelpreisträgers Wilhelm Ostwald „Die Pyramide der Wissenschaft“ (1929) auf einem Holzschnitt des Malers und Graphikers Hanns Anker bezeichnenderweise einen Sonnenanbeter im Gebirge. (Abb. [iv]) Ostwald, seit 1910 neben Ernst Haeckel eines der prominentesten Mitglieder des Deutschen Monistenbundes, wollte sich angesichts der „immer weiter gehenden Sonderung und Einschränkung der Einzelforscher“ um „Ordnung und Zusammenhang der Gesamtwissenschaft“ kümmern. Deren Symbol war die Pyramide. Er berief sich auf den Wissenschaftstheoretiker Auguste Comte, der in diachroner Entwicklung drei geistige Zustände der Menschheit voneinander unterschied: den „religiösen“, den „metaphysischen“ und den „positiven“, das heißt exaktwissenschaftlichen.[2] Seiner „positiven Philosophie“ lag eine Hierarchie der Wissenschaften – von der Mathematik bis zur Soziologie – zugrunde, die Ostwald mit religiöser Metaphorik ausmalte: Die Wissenschaften seien nicht nebeneinander, sondern übereinander angeordnet, so dass „jede niedere Wissenschaft als Grundlage oder Hilfswissenschaft für alle höher liegenden dient, aber nicht umgekehrt; wie in der Priesterhierarchie die niederen Grade den höheren Gehorsam schulden, aber nicht umgekehrt.“

Von besonderer Bedeutung für die praktisch-klinische Medizin waren zwei mit dem Nobelpreis gewürdigte Innovationen: die Entdeckung der „X-Strahlen“ durch den deutschen Physiker Robert Röntgen 1895 und die Entwicklung einer Bestrahlungslampe durch den dänischen Arzt Niels Ryberg Finsen, der 1896 ein Institut für Lichttherapie gründete. Seine künstliche „Höhensonne“ wurde zu einer verbreiteten Heilmethode insbesondere bei Hauttuberkulose (Lupus vulgaris). Die naturmagischen Anspielungen sind bei manchen Illustrationen unverkennbar, wie etwa beim Emblem „Höhensonne Hanau“, das Fidus zugeschrieben wird. (Abb. [v]) Ein Werbefaltblatt derselben Firma, ein Farbdruck des bedeutenden Graphikers und Plakatkünstlers Ludwig Holwein aus dem Jahr 1925, zeigt ein Paar, das sich sonnt. (Abb. [vi]) Die Frau ist höher positioniert als der Mann und blickt nach oben, wobei sie ihre Augen mit einer Hand vor dem blendenden Licht schützt. Der Mann dagegen zeigt sich mit geschlossenen Augen in einer hingebungsvollen Pose. Warum wählte der Künstler diese und nicht die umgekehrte Konstellation: Sehender Mann, passiv vor sich hindösende Frau? Eine mögliche Antwort wäre: Weil er der kulturhistorisch verdrängten Sichtweise folgte, die vom traditionell misogynen Frauenbild verdeckt wurde. Demnach kommt die Frau mit ihren Natura-Eigenschaften dem Göttlichen näher als der Mann (Kap. 38).

Eine besondere Faszination übte die Entdeckung der Radioaktivität durch die aus Polen stammende Physikerin Marie („Madame“) Curie auf die Zeitgenossen aus, die sie zusammen mit Ihrem Mann Pierre Curie im Jahr 1898 machte. Die Medizin erblickte im Radium zunächst eine besondere Art von Heilquelle der Natur, zumal mit diesem Element angereicherte Materialien im Dunkeln leuchteten und damit eine zunächst vermutete Heilkraft sichtbar wurde. So entstand eine neue Kategorie von Heilbädern in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts: die Radiumbäder. Zu nennen sind hier Bad Kreuznach (Nahe), das sich als stärkstes „Radiumsolbad“ ausgab, St. Joachimsthal (Böhmen; heute Jáchymow, Tschechische Republik), Oberschlema (Erzgebirge) sowie Bad Brambach (Vogtland), welches sich als „stärkstes Radium Mineralbad der Welt“ bezeichnete, wie auf dem betreffenden Werbeprospekt zu lesen ist. (Abb. [vii]) Eindrucksvoll wird hier die Radiumquelle als Sonne in den Himmel projiziert, die das Kurhaus des Heilbads in seinen Lichtkegel eintaucht und deutlich macht, wie sehr damals „Radium als Kraftquelle“ verehrt wurde.[3] Tatsächlich kam in den Heilquellen jedoch mehr Radon als Radium vor, worauf hier nicht näher einzugehen ist.[4]

Mit den Röntgenstrahlen und dem Sichtbarmachen des bislang unsichtbaren Inneren des menschlichen Körpers kam um 1900 zugleich ein modernes Memento mori zum Ausdruck: Das Skelett als Symbol des Todes erschien auf dem Röntgenschirm mitten im Leben, sodass die durchleuchteten Menschen vom Tode gezeichnet schienen. Die Röntgenröhre als Lichtquelle, eine Art Sonne für die künstliche Durchleuchtung, offenbarte schlagartig, was es hieß, als Lebender unausweichlich dem Tode geweiht zu sein. Die junge Frau auf dem Gemälde von J. Rohr von 1896, das die ungeheure Faszination der gerade entdeckten Strahlen offenbart, wird im Blick ihres Untersuchers auf das Bild ihres Skeletts als Symbol der Sterblichkeit reduziert. (Abb. [viii]) Die im selben Jahr entstandene Karikatur zu Röntgens Entdeckung „Look pleasant, please“ ist in dieser Hinsicht aufschlussreich: Der Landwirt mit Sense, der in die Kamera schaut, mit der Sonne im Rücken, entpuppt sich als der Sensenmann höchst persönlich. (Abb. [ix]) Die Sonne übernimmt hier die Funktion der Röntgenröhre, die den Körper durchleuchtet und die unerbittliche Wahrheit über das Leben offenbart: den Tod. In dieser Perspektive erscheint das „Strand-Idyll à la Röntgen“ auf einer Ansichtskarte als moderner Totentanz. (Abb. [x]) Wohlgemerkt: Es sollten zu jener Zeit keineswegs die tödlichen Gefahren dargestellt werden, die von den Röntgenstrahlen ausgingen, denn die Erkenntnisse über die biologischen Strahlenschäden wurden erst Jahre später gewonnen. Vielmehr ging es um die existenzielle Erkenntnis des Todes mitten im Leben, die mit der Röntgendiagnostik zeitgemäß für jedermann augenfällig demonstriert werden konnte. Dies erinnert an Rainer Maria Rilkes „Schlußstück“ im „Buch der Bilder“, das ebenfalls in den Jahren um 1900 entstand:

Der Tod ist groß.
wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.[5]

Anmerkung vom 9.11.2015

Diese schillernde „Magie der Strahlen“ im Empfinden der Menschen um 1900, angeregt durch Röntgens Entdeckung der „X-Strahlen“, habe ich in einem kürzeren Artikel dargestellt, der in meinem Blog Schott’s Published Writings Online abrufbar ist.

* Überwindung der krankmachenden Zivilisation

Dass eine schädliche Umwelt den Menschen krank macht, entspricht einer uralten Erkenntnis. Paradigmatisch ist hier die „Malaria“ zu erwähnen, deren epidemisches Auftreten bereits in altägyptischen Papyri erwähnt wird und die in den hippokratischen Schriften ursächlich von der „schlechten Luft“ (ital. mala aria) aus Sumpfgebieten abgeleitet wurde. So wurde Malaria auch als „Sumpffieber“ bezeichnet. Eine solche geobiologische Erklärung kann sich auch mit dämonologischen Vorstellungen verknüpfen, wie die Krankheitsbezeichnung „Mal-Aire“ im heutigen Ecuador belegt.[6] Die Menschen sind dann aufgefordert, die gefährliche Naturgegend zu verlassen oder sie künstlich zu sanieren, den Sumpf buchstäblich trocken zu legen. Eine andere Konstellation ist jedoch gegeben, wenn die vom Menschen selbst gestaltete Umwelt, seine „zweite Natur“ (Kap. 14), zur Gefahrenquelle wird: Miserable Wohn- und Arbeitsverhältnisse, mangelhaftes Trinkwasser und fehlendes Abwassersystem, Hunger und Krieg. Mit der Herausbildung der modernen Industriegesellschaft und der mit ihr verbundenen Veränderungen der Lebens- und Arbeitsverhältnisse für große Menschenmassen durch die zunehmende Verstädterung mit Elendsvierteln für die Armen, die so genannten Proletarier und Lumpenproletarier, rückte die Kultur bzw. „Zivilisation“ als potenzielle Krankheitsquelle in den Brennpunkt der Gesellschaftskritik, die nicht zuletzt von Stadtärzten („Armenärzten“) und Psychiatern („Irrenärzten“) formuliert wurde. Die „Zerrüttung“ des Nevensystems durch die moderne Zivilisation und die daraus resultierende „Nervenschwäche“ (Neurasthenie) fundierte einen neuen sozialmedizinisch definierten Krankheitsbegriff. Das „nervöse Zeitalter“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schien nun vor dem Hintergrund der Degenerations- und Vererbungslehre aus biologischen Gründen – im Sinne des Biologismus jener Epoche – dem Untergang geweiht.[7] Alle Autoren waren sich in einem Punkt einig: Durch die moderne „Zivilisation“, die im deutschsprachigen Raum nach Kant gerne als oberflächliche Kehrseite der tiefer gehenden „Kultur“ begriffen wurde,[8] seien die gesunden, natürlichen Lebensverhältnisse des Menschen gestört bzw. zerstört worden, so dass dieser der Krankheit anheimfalle.

Letztlich konnten somit alle Krankheiten einschließlich die Grenzbereiche sozialer Verelendung als „Zivilisationskrankheiten“ gedeutet werden. Erstmals wurden solche sozial bedingten Krankheiten in der Aufklärung als Problem erkannt und im Sinne des aufgeklärten Absolutismus zur gesundheitspolitischen Aufgabe erklärt. Beispielhaft war das monumentale Werk „System einer vollständigen medicinischen Polizey“, das Johann Peter Frank, der heute als ein Begründer der Sozialmedizin gefeiert wird, in sechs Bänden zwischen 1779 und 1819 veröffentlichte. Seine Deutung der krankmachenden Lebensverhältnisse in den Ghettos der Juden ist interessant. Zwar galten die Juden im aufgeklärten Absolutismus durchaus als „unreines unglükliches Volk“, als „unreinste Menschen“.[9] Frank aber führte dies nicht primär im Sinne des Antisemitismus auf ihr ererbtes jüdisches „Blut“ zurück, sondern auf die widrigen und ungesunden Lebensverhältnisse in den engen schmutzigen Judengassen. Erst die rassenbiologische Fixierung der Juden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte jene verhängnisvolle Stigmatisierung, deren letzte Konsequenz die Ausgrenzung und Vernichtung der verhassten „Rasse“ darstellte. Der Kampf der Lebensreformbewegung gegen die krankmachende Zivilisation schloss jedoch keineswegs eine rassistische Ideologie aus, ja, er konnte sich sogar explizit mit ihr verbünden (siehe oben). Dieser Kampf verlief dann an zwei Fronten: zum einen gegen die unnatürliche Zivilisation und zum anderen gegen minderwertige Erbanalgen bzw. minderwertige, das gesunde (arische) Erbgut verunreinigende Rassen.

Welches Ziel strebte das lebensreformerische Pathos „der Sonne entgegen“ an? Der vom zivilisatorischen Elend geplagte Mensch sollte die beengenden und krankmachenden Verhältnisse endlich hinter sich lassen und einer freien und gesunden Zukunft entgegensehen und entgegengehen. Das Motiv der „Freiheit“ war allerdings nicht politisch definiert als demokratische Freiheit im Sinne der Menschenrechte, sondern naturalistisch bzw. biologistisch: Der Mensch sollte in einer freien Natur frei werden und sein Leben gemäß seiner biologischen Vitalität führen können. Die unterschiedlichen Strömungen der Reformbewegung um 1900 – Kleider, Ernährung, Luft, Ehe, Sexualleben etc.[10] – hatten ein gemeinsames Ziel, nämlich den „neuen Menschen“ hervorzubringen. Die Logik folgte dem traditionellen christlichen Verständnis von Wiedergeburt durch Bekehrung und Taufe und insofern zeigte die Lebensreform charakteristische Züge einer religiösen Erweckungsbewegung: Verkündigung des gesund und selig machenden Evangeliums, Bekehrung und geistige Erneuerung sowie mehr oder weniger radikale Änderung der bisherigen Lebensweise. Entscheidend für die soziale Gruppendynamik solcher Bewegungen war die Idee der Missionierung der übrigen Welt, um Gott gewollte Verhältnisse auf Erden zu schaffen. Die Verlegung der entsprechenden Paradiesvorstellungen vom Jenseits ins Diesseits, wie sie in manchen Strömungen der Lebensreform − vor allem in den USA − zu beobachten war, unterstrich deren praktisch-missionarischen Charakter.

Die intellektuelle Schlüsselfigur für die Konstruktion des „neuen Menschen“ (zumindest im deutschsprachigen Raum) war Friedrich Nietzsche. Seine Philosophie reflektierte die kulturpessimistische Stimmung, die Diagnostik der als pathologisch empfundenen Lebensverhältnisse und das Pathos der endgültigen Befreiung von physiologischer Unterdrückung und psychologischer Einschläferung. Der neue Mensch sollte frei vom giftigen „Ressentiment“, von edler Natur, ein „Herrenmensch“, ja, ein „Übermensch“ sein – eine Utopie, die Nietzsche schließlich in „Also sprach Zarathustra“ ausformulierte. Selbstanalyse und Selbstüberwindung waren für ihn die wichtigsten Hebel auf dem Wege zum „Übermenschen“. Doch anders als Sigmund Freud, der ja lediglich eine „Ermäßigung“ der Neurose anstrebte, entwickelte Nietzsche keine Therapiemethode und gründete keine Schule durch „Lehranalyse“ der Schüler. Allerdings verkündete er eine prophetische Schau, die sich von der Freudschen Welt wie Tag und Nacht unterschied.

Das Motiv der Sonnenanbetung ist gleich zu Beginn des „Zarathustra“ präsent, in dem sich der Held mit der untergehenden Sonne identifiziert, um der „Unterwelt“ Licht zu bringen:

„Als Zarathustra dreißig Jahre alt war, verließ er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging in das Gebirge. Hier genoß er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein Herz, – und eines Morgens stand er mit der Morgenröte auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also:

»Du großes Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!

Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle: du würdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich, meinen Adler und meine Schlange.

[…]

Ich möchte verschenken und austeilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Torheit und die Armen wieder einmal ihres Reichtums froh geworden sind.

Dazu muß ich in die Tiefe steigen: wie du des Abends tust, wenn du hinter das Meer gehst und noch der Unterwelt Licht bringst, du überreiches Gestirn!

Ich muß, gleich dir, untergehen, wie die Menschen es nennen, zu denen ich hinab will.“

Nietzsches Werk wurde um 1900 zu einem wissenschafts- und kulturhistorischen Kristallisationspunkt par excellence, der mächtig auf die Lebensreformbewegung ausstrahlte. Gerade deren Idee der Schaffung eines neuen Menschen erhielt von Nietzsche kräftige Impulse.


[1] Hoegl, 1991. [2] Ostwald, 1929, S. 49. [3] Bilz, 1918, S. 209. [4] http://de.wikipedia.org/wiki/Radium (16.4.2009) [5] Rilke [1902], 1906: 2. Buch, Teil 12, S. 185. [6] Knipper, 2001 / 2003. [7] Roelcke, 1999, S. 138-172. [8] http://de.wikipedia.org/wiki/Kultur (12.10.2011) [9] J. P. Frank, 1804, S. 878. [10] Kerbs / Reulecke (Hg.), 1998.


[i] Die Lebensreform, Bd. 2, S. 424; → Abb. Steckenpferd Lilienmilch-Seife [ii] Die Lebensreform, Bd. 2, S. 518; → Abb. Odol Sonne Werbeanzeige 1907 [iii] Die Lebensreform, Bd. 2, S. 518; → Abb. Odol Frauen Werbeanzeigen [iv] Die Lebensreform, Bd. 1, S. 77; → Abb. Ostwald 1929 [v] Die Lebensreform, Bd. 1, S. 192; → Abb. Höhensonne Hanau [vi] Die Lebensreform, Bd. 1, S. ??  → Abb. Höhensonne Hanau 1925 [vii] http://www.google.de/images?client=firefox-a&rls=org.mozilla%3Ade%3Aofficial&hl=de&source=hp&q=radiummineralbad+brambach&btnG=Bilder+suchen&gbv=2&aq=f&aqi=&aql=&oq (19.03.2011); → Abb. Radiummineralbad Brambach [viii] Pallardy (Hg.), 1989, nach S. 448; → Abb. Durchleuchtung Gemälde [ix] Volbeding, 1995, Abb. IV; → Abb. Röntgen Karikatur 1896. [x] H. Schott, 2005 [b], S. 17; → Abb. Strand-Idylle à la Röntgen.

# 10. Kap. Der „neue Mensch“: Im Namen der Natur [+ Audio]

Audio on Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=CWpgZUQoMNs

Die Lebensreformbewegung spielte für die entstehende Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts eine Art kontrapunktische Begleitmusik. Sie kann als Abwehrreflex auf die veränderten Lebensverhältnisse der industriellen Revolution verstanden werden: Verstädterung, Pauperismus, technologische Umwälzungen, Entstehung der kapitalistischen Klassengesellschaft. Sie speiste sich aus unterschiedlichen Quellen: Zum einen war sie von Ideen der Aufklärung geprägt, insbesondere von Jean Jacques Rousseaus Theorie, wonach der Mensch von Natur aus gut sei, ein „edler Wilder“ und die Pädagogik gerade diesen Naturzustand des Zöglings zur Entfaltung zu bringen habe. Zum anderen orientierte sie sich an bestimmten Vorstellungen der romantischen Naturphilosophie, welche in den Äußerungen der Natur die göttliche Ursprache zu vernehmen glaubte und eine mystische Einstellung förderte. Hinzu kam ihr Sendungsbewusstsein: Die Lebensreformbewegung wollte die Fesseln des grauen Alltags mit seinen Nöten und Plagen sprengen, die in ihren Augen Unterdrückten, Kranken und Elenden befreien und sie einem neuen Morgen, ja, vielfach auch explizit einem irdischen Paradies entgegenführen. Populäre Wanderlieder der 1920er Jahre, die sich zum Teil als Schlager bis heute gehalten haben, spiegeln diese Aufbruchstimmung wider. Hier wäre beispielsweise das ursprünglich aus Schweden stammende Lied „Im Frühtau zu Berge“ oder das Lied „Aus grauer Städte Mauern“ zu nennen, die mir selbst seit meiner Kindheit in der Nachkriegszeit vertraut sind. [1]


[1] Widmaier, 2011; http://www.volksliederarchiv.de/text1168.html (11.06.2012)